Herzstoss
Nacht anrufen? Was hast du dir dabei gedacht, Herrgott noch mal?« Seine Wut war mit jedem Wort größer und lauter geworden. »Und was soll diese alberne Nachricht auf meinem Anrufbeantworter? Hast du komplett den Verstand verloren?«
»Ich kann jetzt nicht mit dir reden«, hatte sie erwidert und den Hörer wieder auf die Gabel gelegt, als wäre er in Flammen aufgegangen. Sie hatte nach gesichtslosen Schatten im Nebel vor dem Fenster Ausschau gehalten, als das Telefon Sekunden später erneut klingelte.
»Hast du mich gerade abgehängt?«, wollte Peter wissen. Sie hatte weder die Zeit noch die Kraft für seine Empörung. Und sie konnte ihm auch nicht die Wahrheit sagen – dass Devon Kontakt mit ihr aufgenommen hatte und sie ihre Tochter in einer Stunde treffen würde. Er hätte ihr ohnehin nicht geglaubt. Aber er würde ihr noch glauben, dachte sie, als das Telefon wieder zu läuten begann. Sie hatte ihre Handtasche genommen und war, verfolgt vom beharrlichen Klingeln des Telefons, aus ihrem Zimmer die Treppe hinunter in die Lobby geflüchtet.
Eine halbe Stunde später bog Marcy endlich in die Bishop Street, und die drei riesigen Türme der französisch-gotischen Kathedrale erhoben sich aus dem Nebel über die Silhouette der Stadt.
Gegenüber parkten vier große Touristenbusse. »Das existierende Bauwerk, das auf dem Boden steht, den der heilige Finbarr 600 nach Christus für seine Kirche und Schule ausgewählt hat, wurde 1870 vollendet. Bemerkenswert sind vor allem die kunstvollen Mosaiken im Innenraum«, hörte Marcy einen Führer erläutern, der versuchte, die Herde seiner Schutzbefohlenen zum Haupteingang zu lotsen.
Auf der Suche nach Devon ließ sie ihren Blick über die Massen schweifen, die sich am Eingang drängelten. Sie sah jede Menge junge Frauen mit langem braunem Haar, einige mit traurigen Augen und ausgeprägten Wangenknochen, aber keine davon war ihre Tochter. Sie blickte auf die Uhr. Es war noch früh. »Komm um eins vor die St. Fin Barre’s Cathedral«, lautete Devons präzise Anweisung, und bis dahin waren es noch zwanzig Minuten. Wahrscheinlich war Devon noch gar nicht hier. Marcys Blick huschte weiter von Gesicht zu Gesicht, während sie sich bis zu dem riesigen Eingangsportal vordrängte. Devon war fast nie pünktlich. Wie oft hatte Marcy warten müssen, wenn sie sie zur Schule bringen wollte, während ihre Tochter im Bad rumgetrödelt hatte? Wie viele reservierte Tische waren verfallen, weil Devon sich nicht entscheiden konnte, was sie anziehen sollte? Einmal hatten sie die komplette Ouvertüre von Schwanensee verpasst, weil Devon im letzten Moment noch duschen wollte.
Marcy verstand, dass Devons fast pathologische Unpünktlichkeit Ausdruck ihrer Unsicherheit und Teil ihrer Krankheit gewesen war. Wenn sie und ihre Tochter in Kürze wieder vereint waren, würde sie dafür sorgen, dass Devon die Hilfe bekam, die sie brauchte. Sie würden einen Arzt finden, den ihre Tochter mochte, einen Arzt, dem sie vertraute und der dafür sorgte, dass ihre Medikamente richtig dosiert wurden. Schließlich war das Ganze nur eine Störung des chemischen Gleichgewichts, und wenn das wieder hergestellt war …
»Mutter!«, rief irgendjemand. Als Marcy herumfuhr, sah sie eine junge Frau mit langen braunen Haaren auf sich zukommen. »Herrgott, noch mal, Ma, wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du nicht einfach loslaufen sollst?«, fragte die junge Frau atemlos und packte den Arm einer älteren Frau neben Marcy.
Marcy erkannte, dass die Frau gar nicht so jung war, sondern wahrscheinlich eher in ihrem als in Devons Alter. Ihre Mutter wirkte verängstigt und verwirrt, als wüsste sie nicht genau, wer die wütende Frau war.
»Ich fürchte, sie ist nicht ganz bei sich«, erklärte die Frau, als sie Marcys Blick sah. »Alzheimer.« Sie seufzte. »Die Ärzte raten uns, mit ihr an ihre Lieblingsorte zu fahren, aber wenn wir das machen, läuft sie jedes Mal weg. Man muss jede verdammte Sekunde auf sie aufpassen. Sie ist schlimmer als meine Zwölfjährige.«
»Treffen wir jetzt deinen Vater?«, fragte die ältere Frau.
»Nein, Ma. Dad ist vor mehr als zehn Jahren von uns gegangen. Das weißt du doch.«
»Vor mehr als zehn Jahren? Wo ist er denn hingegangen?«
»Mach dir keine Sorgen, Ma. Ich bin sicher, zum Abendessen ist er wieder zu Hause.« Sie beugte sich vor. »Er ist tot«, flüsterte sie Marcy zu.
»Er kommt zum Abendessen nach Hause?«, fragte ihre Mutter hoffnungsvoll.
»Ja, Ma. Pünktlich um sechs.
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