Herzstoss
euch?«
»Du fragst mich nach dem Wetter?«
»Hier regnet es fast jeden Tag.«
»Was zum Teufel machst du da?«, fragte Darren.
»Ich weiß nicht«, gab Marcy zu.
»Wolltest du nicht mit Dad dorthin fahren, eine Art zweite Flitterwochen oder so?«
»Ja, nun, das ist ja nicht direkt wie geplant gelaufen.«
»Ist Tante Judith bei dir?«
»Nein.«
»Du bist allein?«
»Ja. Es ist eigentlich ganz nett. Ich habe eigentlich noch nie richtig Zeit für mich gehabt.«
»Was ist los, Mom?«
»Nichts ist los.«
»Hast du einen Nervenzusammenbruch?«
»Was? Nein, natürlich nicht.«
»Du bist in Irland«, erklärte ihr Sohn ihr. »Du rufst mich um ein Uhr nachts in meinem Sommercamp an.«
»Ich habe keinen Nervenzusammenbruch.«
»Du hast doch nicht vor, irgendwas Verrücktes zu tun, oder? Noch verrückter als sowieso schon, meine ich.«
»Ich habe nicht vor, mich umzubringen, Darren.«
»Bist du sicher? Weil es irgendwie in der Familie liegt.«
»Deine Schwester hat sich nicht umgebracht.«
»Dad sagt doch.«
»Dein Vater irrt sich.«
»Mom …«
»Hör mal, ich sollte dich jetzt wirklich schlafen lassen.«
Nach einem kurzen Schweigen sagte Darren: »Klar. Was auch immer.«
»Ich liebe dich«, sagte Marcy.
»Ja. Gute Nacht, Mom.«
Marcy legte auf. Ihr Sohn brachte also nicht mal ein »Ich liebe dich« über die Lippen, wenn er fürchtete, dass sie kurz vor dem Selbstmord stand. Aber konnte sie ihm das verübeln? Sie hatte seit Jahren nicht aktiv an seinem Leben teilgenommen. Devon hatte all ihre Kraft, all ihre Mutterinstinkte aufgesaugt. Und trotzdem hatte Marcy sie am Ende enttäuscht. Ich bin eine schreckliche Mutter, dachte sie.
O bitte , meldete sich Judith ungeduldig zu Wort. Es reicht mit der Selbstkasteiung. Du warst keine schreckliche Mutter. Muss ich dich daran erinnern, wie eine wirklich schreckliche Mutter aussieht ?
Sie hat ihr Bestes gegeben, widersprach Marcy stumm.
Genau wie du.
Mein Sohn hasst mich. Meine Tochter ist …
Ist was , fragte ihre Schwester so laut und deutlich, als würde sie direkt neben ihr stehen. Was ist mit deiner Tochter?
Was habe ich getan, fragte Marcy sich. Was mache ich bloß?
Schwerfällig, als wären ihre Füße in Zement gegossen, schleppte Marcy sich zu dem Schreibtisch und nahm ihre Handtasche. Dann sank sie auf den Teppich, zog den mittlerweile abgegriffenen Umschlag heraus, ordnete die Fotos von Devon im Halbkreis um das einzelne Foto ihrer Mutter und strich zärtlich mit den Fingern darüber.
Dann zog sie den zweiten Umschlag heraus, entfaltete den darin enthaltenen Brief und begann zu lesen.
Meine wunderschöne Mommy. Sie hielt inne. Konnte sie das wirklich tun? Und blieb ihr eine andere Wahl?
Marcy setzte neu an und hörte in jedem Wort Devons Stimme. Meine wunderschöne Mommy. Bitte sei nicht böse und glaube mir, dass ich diese Entscheidung bestimmt nicht leichten Herzens getroffen habe. Ich weiß, wie viel du meinetwegen gelitten hast. Glaub mir, wenn ich sage, dass ich dir nicht noch mehr Kummer machen will.
Marcy sah sich den Flur zu Devons Zimmer hinunterrennen, nachdem die Polizisten gegangen waren. Der an sie adressierte Brief war sorgfältig auf dem Kissen platziert. Sie steckte ihn hastig ein, bevor Peter kam und ihn sehen wollte. »Kein Brief?«, hatte er mit aschfahlem Gesicht gefragt, als er kurz darauf in der Tür stand.
»Kein Brief«, hatte sie gelogen und gewartet, bis sie allein war, bevor sie ihn öffnete. Diese schrecklichen ersten Zeilen, die anzudeuten schienen …
»Nein«, sagte Marcy jetzt, wie sie es sich damals gesagt hatte, und steckte den Brief zurück in den Umschlag. Im nächsten Atemzug zog sie ihn wieder heraus und zwang sich, weiterzulesen.
Diese letzten Jahre waren eine Mischung aus Kummer, Leid und Verzweiflung. Ich wünschte von ganzem Herzen, es wäre anders. Ich weiß, wie schwer es für dich war. Ich hoffe, du weißt, wie schwer es auch für mich war. Manchmal hat es all meine Kraft erfordert, nur einen Fuß vor den anderen zu setzen und es durch einen endlosen Tag nach dem anderen zu schaffen. Es ist so weit gekommen, dass es mir sogar wehtut, guten Morgen zu sagen, weil ich die Hoffnung sehe, die dieser schlichte Gruß in deinen Augen weckt. Dann muss ich zusehen, wie diese Hoffnung stirbt, während der Tag sich dahinschleppt. Ein Tag blutet sein Gift in den nächsten, und jeder ist schlimmer als der vorherige. Und die Nächte sind am schlimmsten von allem.
Ich fühle mich, als wäre ich in eine
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