Herzstoss
Es ist seltsam, seine Mutter so anzulügen, aber was soll’s?«, vertraute die Frau Marcy im selben Atemzug an. »Sie fühlt sich gut, und später erinnert sie sich sowieso an nichts mehr.« Sie zuckte die Achseln und führte ihre Mutter zurück in die Menge.
Marcy sah ihnen nach, bis sie verschwunden waren, und blickte dann wieder auf die Uhr. Noch immer zehn Minuten, dachte sie und fragte sich, ob sie am richtigen Ort war.
Komm um eins vor die St. Fin Barre’s Cathedral , hatte Devon ihr erklärt.
Aber die Kirche war riesig, und »vor« konnte alles Mögliche bedeuten. Sollte sie direkt am Eingang warten oder auf einer Seite der imposanten Holzportale, direkt vor dem Gebäude oder ein Stück entfernt? Hatte Devon die schiere Menge von Besuchern einkalkuliert? Würde sie sie zwischen all diesen Menschen überhaupt sehen? Was, wenn Devon sie nicht fand? Was, wenn sie keine Lust hatte, sich durch die Massen zu drängeln? Menschenmengen waren ihr immer unangenehm gewesen. Was, wenn sie in Panik geriet und flüchtete? Oder was, wenn sie ihre Mutter nicht erkannte? Schließlich hatten sie sich seit beinahe zwei Jahren nicht mehr gesehen. Ich hätte etwas Leuchtendes anziehen sollen, dachte Marcy, etwas Auffälligeres. Hastig zog sie ihre Jacke aus und hoffte, dass die blau-weiß gestreifte Bluse reichen würde, die Blicke ihrer Tochter auf sich zu lenken. »Mir ist eiskalt«, murmelte sie wenig später und zog die Jacke wieder an. Wieder schweifte ihr Blick über die Touristengruppen, die so dicht schienen wie der Nebel über der Stadt.
Sie sah erneut auf die Uhr, als ihr Telefon klingelte. Marcy nahm das Handy aus ihrer Handtasche und hielt es ans Ohr. »Hallo?«, fragte sie ängstlich.
»Marcy?«, schnitt Liams Stimme durch den trüben Nebel wie ein warmes Messer durch Butter.
»Hat Shannon sich gemeldet?«, fragte sie und sah sich besorgt um. Was, wenn Devon sie telefonieren sah? Was, wenn sie annahm, dass Marcy mit der Polizei sprach?
»Nein, kein Lebenszeichen von ihr. Ich dachte, vielleicht sollte ich sie anrufen …«
»Nein. Bitte tu das nicht.«
»Nur um zu hören, ob sie Audrey erreicht hat.«
»Ich finde, wir sollten sie nicht unter Druck setzen.«
»Ich wollte sie nicht unter Druck setzen. Ich wollte bloß … Wo bist du?«
»Was?« Marcy presste das Handy dicht ans Ohr, um bei dem Stimmengewirr der Touristen noch etwas zu verstehen.
»Bist du irgendwo hingegangen?«
»Nein, ich bin nur in der Lobby. Es hat wieder ein Problem mit meiner Kreditkarte gegeben«, log sie.
»Klingt, als ob da ein ziemlicher Menschenauflauf wäre.«
»Gerade ist ein Bus mit Touristen angekommen«, sagte Marcy und beobachtete, wie auf der anderen Straßenseite ein Reisebus hielt. Nicht ganz gelogen, dachte sie.
»Das Hayfield Manor nimmt jetzt auch Reisegruppen auf?«, fragte Liam ungläubig. »Die Wirtschaftskrise trifft wohl alle.«
»Ich muss Schluss machen«, erklärte Marcy ihm. »Man will mich sprechen.«
»Und du bist sicher, dass ich nicht vorbeikommen und dir helfen soll?«
»Absolut. Es ist alles unter Kontrolle, und ich will nicht dafür verantwortlich sein, dass du gefeuert wirst.«
»Dann denkst du also an mich?«
»Ich muss Schluss machen«, sagte sie noch einmal und hoffte, nicht zu ungeduldig zu klingen.
»Okay, aber wenn ich in der nächsten Stunde nichts von Shannon höre, rufe ich sie noch mal an«, sagte er.
»Gut.«
»Vielleicht statte ich ihr auch einen Besuch ab.«
»Ich glaube wirklich nicht, dass das nötig sein wird.«
»Ach ja? Weißt du irgendwas, was ich nicht weiß?«
»Nein, natürlich nicht. Ich versuche bloß, positiv zu denken.«
»Okay. Dann also positive Gedanken.«
»Positive Gedanken«, wiederholte sie.
»Ich ruf dich später an.«
»Okay.« Sie schob das Handy hastig zurück in die Tasche und drehte sich einmal um die eigene Achse. »Positive Gedanken«, flüsterte sie.
Keine Spur von ihrer Tochter.
Und denk dran – wir beobachten dich , hatte Devon sie gewarnt.
Beobachtete irgendjemand sie in diesem Moment und berichtete über jeden ihrer Schritte? Hatte er sie telefonieren sehen und Devon gewarnt, nicht zu kommen?
»Positive Gedanken. Positive Gedanken.«
Und kein Wort zu deinem sexy Freund.
War ihr Beschatter, wer immer es sein mochte, nah genug, um das Gespräch mit angehört zu haben? Wusste er, dass sie Liam nichts verraten hatte?
Vielleicht hätte sie das tun sollen, dachte Marcy. Vielleicht hätte sie ihm alles erzählen sollen. Dann würde er
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