Herzstoss
nicht grübeln, warum Shannon sich noch immer nicht gemeldet hatte. Und er würde auch sie nicht noch mal zurückrufen oder gar unangemeldet bei ihr aufkreuzen. Wenn sie nicht aufpasste, vermasselte er noch alles.
Positive Gedanken. Positive Gedanken.
»Verzeihung«, sagte eine Frau irgendwo neben ihr mit einem deutlich nordamerikanischen Akzent.
»Devon?«, fragte Marcy, als sie sich zu der Stimme umdrehte.
»Verzeihung«, wiederholte die junge Frau und schüttelte ihr schulterlanges blondes Haar, »aber wir möchten gerne hier durch.«
»Oh, tut mir leid. Ich wusste nicht …«
»Manche Leute kriegen echt gar nichts mit«, hörte Marcy den männlichen Begleiter der Frau murmeln.
Marcy spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen. Im selben Moment hörte sie, wie in der Ferne die Glocken der St. Anne’s Shandon Church eins schlugen.
»Nicht umdrehen«, flüsterte eine vertraute männliche Stimme ihr plötzlich ins Ohr.
Marcy stockte der Atem.
»Los, weitergehen«, wies die Stimme sie an.
»Wo ist Devon?«
»Immer geradeaus. Und nicht umdrehen.«
»Wohin gehen wir?«
»Ihre Tochter treffen.«
»Warum ist sie nicht hier?«
»Gehen Sie weiter.« Eine kräftige Hand an ihrem Ellbogen navigierte sie durch die Menge.
»Wo ist sie?«
»Nicht weit von hier. Haben Sie jemandem erzählt, wohin Sie gehen?«
»Nein. Niemandem.«
»Gut. Weiter. Richtung Sullivan’s Quay.«
»Ist Devon dort?«
»Stellen Sie nicht so viele Fragen.«
»Ich will nur meine Tochter sehen.«
»Das werden Sie.«
Sie gingen einige Minuten schweigend. Tausend Gedanken wirbelten durch Marcys Kopf wie Kleider in einem Wäschetrockner. Wohin führte er sie? Würden sie wirklich Devon treffen, oder war das eine Falle?
Mit einem Druck auf ihren Ellbogen bedeutete ihr Begleiter Marcy stehen zu bleiben.
»Geben Sie mir Ihr Handy«, wies er sie an.
»Mein Handy? Warum?«
»Geben Sie es einfach her.«
Marcy griff in die Handtasche und zog ihr Telefon heraus. Bevor sie protestieren konnte, wurde es ihr aus der Hand gerissen.
»Ich glaube nicht, dass Sie das noch brauchen«, meinte er und warf das Handy in den nächsten Mülleimer.
»Aber …«
»Weitergehen.«
»Ist diese Geheimnistuerei wirklich nötig?«, fragte Marcy, als sie sich dem Sullivan’s Quay näherten.
»Wahrscheinlich nicht. Aber irgendwie lustig, finden Sie nicht? Die nächste Straße links.«
»Und was dann?«
»Das werden Sie sehen, wenn wir da sind.«
»Bringen Sie mich wirklich zu Devon?«
»Was sollte ich denn sonst tun?«, fragte er.
»Ich weiß nicht. Was wollten Sie denn an dem Nachmittag erreichen, als Sie mich mit dem Fahrrad angefahren haben?« Marcy fuhr herum und sah den jungen Mann direkt an.
»Ich wollte Sie dazu bringen, sich um Ihren eigenen Kram zu kümmern und sie in Ruhe lassen«, antwortete Jax höhnisch. »Das hat offensichtlich nicht geklappt.«
»Devon ist meine Tochter. Was erwarten Sie?.«
Der Junge zuckte die Achseln, wobei seine Bomberjacke aus schwarzem Leder hörbar knitterte. Ein paar Ecken weiter blieb er plötzlich stehen. »Steigen Sie ein«, sagte er.
»Was?«
Er fasst den Türgriff eines schwarzen Kleinwagens, der am Straßenrand parkte. »Sie wollen doch Ihre Tochter sehen, oder?«
»Ja, natürlich.«
Er hielt ihr die Tür auf. »Dann steigen Sie ein. Sie wartet auf Sie.«
KAPITEL NEUNUNDZWANZIG
Sie waren seit fast einer Stunde unterwegs, in der Marcy ihn unaufhörlich mit Fragen bombardiert hatte, die Jax beharrlich ignoriert hatte. Dann endlich brach er sein Schweigen. »Glotzen Sie mich nicht so an«, fuhr er sie an. »Davon krieg ich Kopfschmerzen.«
Sofort schlug Marcy den Blick nieder. »Tut mir leid, ich wollte Sie nicht anstarren.« Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie ihn musterte. Aber sie war es leid, in den Nebel zu spähen, und von den zahlreichen Kurven und dem ständigen Hin- und Herschalten des Jungen war ihr ein wenig übel. Deshalb hatte sie ihren Blick lediglich an das nächste belebte Objekt in ihrer Umgebung geheftet.
»Gefällt Ihnen, was Sie sehen?«, fragte Jax und verzog die Lippen zu einem Lächeln.
»Nicht besonders.«
Er lachte. »Ich hab schon gehört, dass Sie einen speziellen Humor haben.«
»Ach ja? Wer hat Ihnen das denn erzählt?«
»Was denken Sie denn?«
Nicht Devon, dachte Marcy und versuchte sich zu erinnern, wann sie ihre Tochter zum letzten Mal zum Lachen gebracht hatte. Ihr Verhältnis war nicht von Gelächter, sondern von Tränen geprägt gewesen. »Wohin
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