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Herzstoss

Herzstoss

Titel: Herzstoss Kostenlos Bücher Online Lesen
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bodenlose Grube aus Trauer gestiegen und käme nicht wieder heraus, egal wie tief deine Hände reichen und wie verzweifelt du versuchst, mich hochzuziehen. Der Brunnen ist zu tief, das Wasser zu kalt. Ich spüre, wie ich tiefer und tiefer unter die Oberfläche sinke. Und jetzt weiß ich, dass Loslassen der einzige Ausweg ist.
    Ich kann ehrlich behaupten, dass ich mich besser, leichter und lebendiger fühle als seit Jahren. Ich bin tatsächlich glücklich, so seltsam sich das auch anhören mag. Das Wissen darum, was ich tun muss, hat mich befreit, mich an all die guten Zeiten zu erinnern, die wir gemeinsam erlebt haben: die Vormittage, die wir am Küchentisch gemalt haben, die Abende, wenn du geduldig an meinem Bett gesessen hast, bis ich eingeschlafen war, die Nachmittage, an denen wir auf dem Sofa aneinandergekuschelt »Sesamstraße« und später dann »Schatten der Leidenschaft« geguckt haben. Ich kam mir so erwachsen vor! Ich erinnere mich, wie du mich zum ersten Mal mit ins Ballett genommen hast, als ich kaum vier Jahre alt war, mich im Gang hast tanzen lassen, während die Zuckerfee auf der Bühne tanzte, und stolz geklatscht hast, als ich fertig war. Ich erinnere mich, wie wir, als ich fünfzehn war, zusammen Schuhe gekauft haben, und du hast mir welche gekauft, die teurer waren als deine, weil du gesehen hast, wie sehr sie mir gefallen. Ich erinnere mich, wie du im Publikum jeder quälenden Schultheateraufführung gesessen und mich bei jedem Schwimmwettkampf angefeuert hast, an dein stolzes Gesicht, egal ob ich gewonnen hatte oder abgeschlagen Vierte geworden war.
    Vor allem erinnere ich mich an die wundervollen Sommer in unserer Hütte, an Kanufahrten und Sonnenbaden, lange Spaziergänge durch den Wald, die Vertrautheit zwischen Mutter und Tochter, die wir hatten, bevor die Dunkelheit in meiner Seele sie unmöglich machte. Du warst immer so weise, so geduldig, so liebevoll. Und ich habe mir so gewünscht, ich könnte genauso sein wie du.
    Bitte verzeih mir all die hässlichen Dinge, die ich zu dir gesagt habe. Ich weiß, dass du nichts hättest tun können, um deine Mutter zu retten. So wie du jetzt nichts für mich tun kannst. Du hast getan, was du konntest. Es ist nicht deine Schuld.
    Du sollst wissen, wie sehr ich dich liebe, dich immer geliebt habe und immer lieben werde.
    Und dass ich endlich Frieden gefunden habe.
    Devon
    »O Gott«, flüsterte Marcy, und Tränen strömten über ihre Wangen. Was hatte das zu bedeuten? Dass ihre Tochter an jenem kalten Oktobermorgen vor fast zwei Jahren tatsächlich in die Bucht hinausgepaddelt und mit Absicht unter der eisigen Wasseroberfläche verschwunden war? Dass all ihr Bemühen, sich etwas anderes einzureden, die grausame Klarheit von Devons Worten nicht trüben konnte? Hatte sie sich deswegen stur geweigert, jemandem den Brief zu zeigen? Weil sie dann zu dem Eingeständnis gezwungen gewesen wäre, dass Peter und Judith recht hatten, dass Devon sich das Leben genommen hatte.
    Und jetzt weiß ich, dass Loslassen der einzige Ausweg ist.
    »O Gott«, sagte sie noch einmal, als das Telefon neben dem Bett zu klingeln begann. Sie starrte es an, ohne sich von der Stelle zu rühren. Ihre Tochter war tot. Marcy konnte es nicht länger leugnen.
    In Wahrheit hatte sie es die ganze Zeit gewusst.
    Beim fünften Klingeln verstummte das Telefon, nur um Sekunden später erneut zu schrillen, als wüsste ihr Anrufer, dass sie da war.
    Entnervt von dem Geräusch kroch Marcy zum Nachttisch und nahm den Hörer ab. »Hallo«, sagte sie.
    »Hallo, Mommy«, begrüßte eine Stimme sie knapp. »Ich habe gehört, du suchst mich.«

KAPITEL ACHTUNDZWANZIG
    Es war fast Mittag, als Marcy das Hayfield Manor Hotel verließ und zur St. Fin Barre’s Cathedral am Südufer des Lee aufbrach. Sie hatte den Vormittag in einem Zustand rastloser Erwartung verbracht. Unfähig zu schlafen oder zu essen war sie abwechselnd eine halbe Stunde im Zimmer auf und ab gelaufen, um anschließend eine halbe Stunde bemüht still auf ihrem Stuhl zu sitzen. Sie hatte Angst, ihr Zimmer vor der verabredeten Zeit zu verlassen, und zuckte jedes Mal zusammen, wenn das Telefon klingelte. Dabei ging sie im Kopf ein ums andere Mal das Gespräch mit ihrer Tochter durch und klammerte sich an jedes Wort.
    »Die Anweisungen sind buchstabengetreu zu erfüllen«, hatte Devon ihr wütend flüsternd erklärt. »Ein Fehler, ein Patzer, und ich schwöre, du siehst mich nie wieder.«
    »Ich mache, was du willst, versprochen«, hatte

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