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Herzstoss

Herzstoss

Titel: Herzstoss Kostenlos Bücher Online Lesen
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Mädchen, Marcy. So lieb und süß. Du hättest es verdient, ewig zu leben. Wenn wir nur etwas wegen deines Haars machen könnten. So viel Haare für ein so kleines Gesicht.«
    Marcy strich sich das Haar aus der Stirn, richtete sich in ihrem Bett im Doyle Cork Inn auf, starrte auf den Radiowecker auf dem Nachttisch und strengte sich an, das schmerzverzerrte Gesicht ihrer Mutter beiseitezuschieben. Es war kurz vor vier. Noch ein paar Stunden, bis es hell wurde. Sie legte sich wieder hin, wälzte sich von einer Seite auf die andere und zurück und hörte wieder das Geräusch, das die Kleiderschranktür ihrer Mutter gemacht hatte, als sie geöffnet und wieder geschlossen wurde, auf und zu.
    »Ich habe alles vermasselt«, schluchzte ihre Mutter jetzt hemmungslos. »Ich habe alle enttäuscht.«
    »Nein, das hast du nicht.«
    »Habe ich doch. Schau mich an. Was habe ich erreicht? Nichts. Ich habe gar nichts.«
    »Du hast Daddy. Du hast mich und Judith.«
    Ihre Mutter starrte sie an, als könne sie direkt durch sie hindurchsehen, als wäre sie gar nicht da. »Judith musste mit einem Kaiserschnitt geholt werden«, sagte sie. »Habe ich dir das je erzählt? Es war schrecklich«, fuhr sie fort, ohne eine Antwort abzuwarten. »Ich habe eine furchtbar große Spritze bekommen – direkt in die Wirbelsäule –, die mich von der Hüfte abwärts betäuben sollte, aber sie haben mir zu viel gegeben, sodass ich bis zur Brust betäubt war und das Gefühl hatte, ich könnte nicht atmen. Ich hab geweint und gesagt, dass ich keine Luft bekomme, aber die Ärzte haben mir versichert, dass ich ganz normal atmen würde, obwohl es sich angefühlt hat, als würde ich sterben. Kannst du das verstehen? Ich dachte, ich würde sterben. Und ich hatte solche Angst. Ich hatte solche Angst«, wiederholte sie so heftig schluchzend, dass ihre Schultern bebten.
    Und dann sank sie plötzlich zu Boden, rollte sich zusammen und schlief ein.
    Sie schlief den restlichen Tag, und am nächsten Morgen war sie verschwunden.
    »Wo ist Mom?«, erinnerte Marcy sich, gefragt zu haben, als sie zum Frühstück nach unten kam.
    Achselzuckend schnitt Judith das Omelette, das ihr Vater gemacht hatte, in kleine Stücke, führte die Gabel zum Mund und ließ sie unberührt wieder sinken. »Weg.«
    »Wohin ist sie gegangen?«
    »Da, wo sie sonst auch immer hingeht«, erwiderte Judith.
    Was bedeutete, dass keiner es wusste. In Abständen verschwand ihre Mutter einfach. In der Regel für ein paar Wochen, manchmal kürzer, manchmal länger. Niemand wusste, was sie tat oder wo sie war. Nach den ersten paar Malen hatte ihr Vater es aufgegeben, sie zu suchen, hatte aufgehört, ihr Verschwinden der Polizei zu melden, Detektive zu engagieren, die Obdachlosenasyle und schmutzigen, zerlumpten Gestalten abzuklappern, die in der Gosse schliefen. Als Teenager hatte Marcy in Begleitung von ein paar Schulfreundinnen einmal gesehen, wie ihre Mutter vor einem Ladenfenster in einer Mülltonne kramte – zumindest glaubte sie, dass es ihre Mutter war –, doch sie hatte sich abgewandt, bevor sie sich sicher sein konnte, und ihre Freundinnen in einen anderen Laden gelotst.
    Ihr Vater hatte versucht, es ihnen mit dem allgemein üblichen Fachjargon jener Zeit zu erklären. »Eure Mutter ist manisch-depressiv. Kein Grund, sich Sorgen zu machen. Sie wird nicht sterben. Sie ist nicht gefährlich. Sie wird nur erst sehr aufgeregt und dann sehr traurig. Solange sie ihre Medikamente nimmt, kann sie ganz normal funktionieren.«
    Doch ihre Mutter hasste ihre Medikamente. Unter ihrer Wirkung fühlte sie sich, »als würde sie im Schmetterlingsstil durch einen Sumpf schwimmen«, wie sie sich ausdrückte. Also hatte sie aufgehört, sie zu nehmen. Und so begann der Kreislauf aufs Neue: die wilden Stimmungsschwankungen, das zu schnelle Reden und häufige Unterbrechen, die unbarmherzige Intensität, mit der sie selbst alltägliche Handlungen verrichtete, die hysterischen Lachanfälle, die beängstigenden Weinkrämpfe, das plötzliche Einschlafen und gelegentliche Verschwinden.
    Es dauerte nicht lange, bis Marcy die Zeichen zu deuten wusste. Sie wurde sehr gut darin vorauszusagen, wann ihre Mutter wieder aufbrechen würde. »Es geht wieder los«, sagte sie dann zu Judith. Und sie hatte immer recht.
    Bis auf ein Mal.
    »Okay, das reicht«, sagte Marcy, stand aus dem zu weichen Bett auf und schaltete das Deckenlicht ein. Sie hätte ein Buch mitnehmen sollen, dachte sie. Wer fuhr ohne ein Buch in Urlaub?

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