Herzstoss
zurückblieben. »Es tut mir schrecklich leid«, sagte er. Lockiges braunes Haar rahmte ein Gesicht, das zu grob wirkte, um attraktiv auszusehen. Er musterte sie nervös aus kleinen dunklen Augen, als wollte er sich vergewissern, dass sie nicht doch noch zusammenbrach.
Marcy schätzte ihn auf Mitte zwanzig, als sie an ihm vorbei zu der Fußgängerbrücke blickte, genauso alt wie Devon. »Ist schon in Ordnung«, sagte sie mit flacher Stimme. »Es war ein Unfall.«
»Ich bin einfach vor mich hin geradelt. Ich war mit den Gedanken woanders und hab nicht richtig aufgepasst, schätze ich, und auf einmal sind Sie mir in die Speichen gelaufen«, erklärte der Junge mit einem breiten irischen Akzent. »Ich hab noch versucht auszuweichen …«
»Es war nicht Ihre Schuld«, versicherte Marcy ihm, während ihr Verstand zu verdauen suchte, was ihre Augen bereits wussten: Devon stand nicht mehr auf der Brücke und starrte gedankenverloren ins Wasser, vom Wind zerzaust und widerspenstige Strähnen in ihrem traurigen Gesicht.
Ihre Tochter war weg.
Sie hatte sie wieder verloren.
KAPITEL NEUN
Ihre Kindheit und Jugend war ein ständiges sich gegenseitig Beobachten, ein Lauern auf Anzeichen einer beginnenden Depression, ein zu lautes oder zu langes Lachen, ein melancholischer Seufzer, ein Lächeln, das in ein Stirnrunzeln überging, plötzliche Stimmungswechsel von hoch zu tief und wieder zurück in nervenaufreibendem Tempo wie die Achterbahnfahrten, die sie als Kinder geliebt hatten.
Nur dass sie eigentlich nie richtig Kinder gewesen waren und die Achterbahnfahrten rasch ihren Kitzel verloren, weil ihr Alltag sich als noch viel unberechenbarer und beängstigender erwiesen hatte, als jede Karussellfahrt es sein könnte.
»Was ist los? Hast du dich über irgendwas geärgert?«, fragte Marcy jedes Mal, wenn Judith auch nur vage verstimmt aussah.
»Worüber kicherst du immer noch?«, fragte Judith ihre Schwester, wenn diese nach der Erzählung eines nur mäßig komischen Witzes länger als angemessen gluckste. »So witzig war es auch nicht.«
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Marcy.
»Hast du ein Problem?«, fragte Judith.
»Bist du deprimiert?« Noch mal Judith.
»Hast du Kummer?« Wieder Marcy.
»Marcy! Um Himmels willen, wo zum Teufel steckst du?«, kreischte Judith jetzt.
Marcy hielt ihr Handy ein Stück von ihrem Ohr weg und bereute es bereits, ihre Schwester angerufen zu haben. »Mir geht es gut.«
»Ich habe dich nicht gefragt, wie es dir geht «, schoss Judith sofort zurück. »Ich weiß schon, dass du mit dem Sprung, den du in der Schüssel hast, jeden Polterabend schmeißen könntest. Ich habe gefragt, wo du bist? Weißt du, dass irgendwas mit deinem Handy nicht stimmt? Ich hab permanent versucht, dich zu erreichen, ohne Erfolg. Also habe ich Peter angerufen, und er hat mir den Namen deines Hotels in Dublin gesagt, also habe ich dort angerufen, und man hat mir erklärt, du seiest abgereist. Was gibt es da zu lachen, verdammt noch mal?«
Marcy schluckte das Glucksen herunter, das immer noch in ihrem Hals kitzelte. Judith neigte zu einer äußerst blumigen Sprache, dachte sie. »Mit dem Sprung in der Schlüssel könntest du jeden Polterabend schmeißen« war wirklich gut. »Ich habe dich schon immer für deinen Wortwitz bewundert«, sagte sie.
»Meinen Wortwitz? Wovon zum Teufel redest du?«
»Du hast nie ein Blatt vor den Mund genommen«, sagte Marcy und stellte sich vor, wie Judith die Brauen runzelte und ungeduldig den Mund verzog. »Das habe ich immer an dir geliebt.«
»Bist du high?«, fragte Judith.
»Nein, natürlich nicht.« Marcy hatte immer zu viel Angst gehabt, um mit Drogen zu experimentieren.
»Wo bist du?«, wiederholte Judith.
Marcy sah sich in ihrem winzigen Badezimmer im Doyle Cork Inn um. Sie saß nackt auf dem Rand der weißen Badewanne, aus der Dampf aufstieg wie Finger, die sie in das heiße Wasser locken wollten, das sie sich hatte einlaufen lassen. »Ist doch egal, wo ich bin.«
»Ist doch egal, wo du bist? Wie soll ich kommen und dich abholen, wenn ich nicht weiß, wo du bist?«
»Niemand hat dich gebeten, zu kommen und mich abzuholen. Ich will nicht, dass du kommst und mich abholst.«
»Marcy, hör mir zu. Du musst dich beruhigen …«
»Ich bin ganz ruhig. Du bist diejenige, die sich aufregt.«
»Weil du offensichtlich irgendeinen Zusammenbruch hast. Das ist unter den gegebenen Umständen auch absolut verständlich, versteh mich nicht falsch. Glaub mir, ich weiß, was du
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