Herzstoss
du noch viel zu jung bist, um an Jungen zu denken, aber du musst mir einen Rat geben, was ich mit deinem Vater machen soll.«
Marcy drehte sich in ihrem zu weichen Doppelbett im Doyle Cork Inn um und presste sich das klumpige Schaumstoffkisten auf die Ohren, um den unvermeidlich folgenden Wortwechsel auszublenden. Doch es war bereits zu spät. Ihre Mutter war schon neben ihr, bat um Hilfe, die sie nicht wollte, Meinungen, die sie rasch wieder verwarf, und Rat, den sie nie annahm.
»Ich finde, du solltest das rote Kleid anziehen«, hatte Marcy auf dem Bett sitzend vielleicht geantwortet, während sie beobachtete, wie ihre Mutter ungeduldig durch ihren Kleiderschrank wühlte, Kleider von den Bügeln rupfte und unfeierlich auf den perlgrauen Läufer zu ihren Füßen warf.
»Glaubst du wirklich, das rote ist besser, Schätzchen? Warum? Findest du, dass ich in hellen Farben besser aussehe? Macht mich das blaue Kleid zu blass? Sehe ich darin fett aus?«
»Du könntest nie fett aussehen.«
Unvermittelt schimmerten Tränen in ihren Augen. »Glaubst du, ich habe zugenommen? Ist es das?«
»Nein, ich …«
»Meine Kleider sind mir in jüngster Zeit schon ein bisschen eng vorgekommen, obwohl ich glaube, dass daran die Hersteller mit ihren lachhaft widersprüchlichen Größenangaben schuld sind. Ich meine, man kauft dieselbe Größe wie immer, und plötzlich passt es nicht mehr, und ich frage mich, ob das eine Verschwörung ist, eine Verschwörung zur Verwirrung der Frauen, damit sie sich verletzlich und hilflos fühlen, weil man sich nicht mehr auf die Größen verlassen kann. Man muss absolut alles anprobieren. Und das ist zeitaufwändig und überflüssig. Man sollte nicht alles anprobieren müssen. So sollte es nicht sein. Man sollte in einen Laden gehen können und sich eine Hose aussuchen können. Also, wenn man zum Beispiel eine Hose kaufen will und immer Größe 36 oder von mir aus auch 38 getragen hat – nicht, dass es schlimm wäre, Größe 38 oder 40 oder 42 oder auch 44 zu tragen, das ist überhaupt nicht schlimm. Schlimm ist nur, dass die Hersteller Frauen vorsätzlich verwirren, sie wollen unser eigenes Körpergefühl verunsichern, uns einreden, wir wären fett, obwohl wir dieselbe Größe tragen wie immer. Wir sind überhaupt nicht fett. Findest du, dass ich fett aussehe?«
»Ich finde, du siehst wundersch …«
»Ich mache mir Sorgen um Judith. Sie sieht aus, als hätte sie ein paar Pfund zugelegt. Sie hat tolle Beine, aber sie neigt dazu, Speck anzusetzen.«
»Nein, sie …«
»Ich bin mir sicher, dass sie ein paar Pfund zugenommen hat. Um die Hüften. Und das kann man jetzt nicht mehr als Babyspeck abtun. Nicht wenn man fast vierzehn ist. Du tust ihr keinen Gefallen, wenn du ihr sagst, dass sich das auswachsen wird. Du musst ihr die Wahrheit sagen. Ich habe ihr gesagt, dass sie leider die gleiche Figur hat wie ihre Großmutter, die Mutter deines Vaters, nicht meine Mutter, meine Mutter war immer sehr schlank und elegant, aber die Frauen in Daddys Familie neigen alle dazu, Fett anzusetzen, vor allem um die Hüfte, und Judith kommt nach ihnen, das arme Ding, deshalb muss sie besonders aufpassen, sie kann sich keine Nachlässigkeit leisten, weil die Gesellschaft absolut grausam zu Frauen ist, die nicht auf sich achtgeben. Designer machen keine Kleider für fette Leute, habe ich ihr erklärt. Und es ist nicht leicht, weil die Hersteller sich verschworen haben, um die Frauen zu verwirren, und das ist nicht fair. Es ist einfach nicht fair.« Die bis jetzt zurückgehaltenen Tränen flossen. Ihre Mutter begann, vor Marcy auf und ab zu laufen.
»Mom, was ist? Was ist los? Warum weinst du?«
»Ich weine, weil alles so traurig ist. Die Welt ist ein so grausamer Ort. Und manchmal bin ich so verzweifelt. Wegen dir. Wegen Judith. Wegen uns allen.« Sie knallte die Kleiderschranktür zu, riss sie wieder auf, schloss und öffnete sie erneut.
»Ich hole Daddy.«
»Nein, tu das nicht.«
»Aber ich habe Angst. Du machst mir Angst.«
»Oh, Schätzchen. Du musst keine Angst haben. Alles wird gut. Ich habe gestern Abend im Fernsehen etwas Wunderbares gesehen. In den Nachrichten war ein Arzt, der gesagt hat, dass sie so nah dran sind, Krebs heilen zu können. Du wirst sehen. Du wirst es noch erleben. Ich wahrscheinlich nicht mehr. Aber du bestimmt. Die Menschen werden viel länger leben als heute. Vielleicht kannst du zweihundert Jahre oder sogar ewig leben. Das ist nicht unmöglich. Und du bist so ein süßes
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