Herzstoss
durchmachst. Deine Tochter ist gestorben«, führte sie überflüssigerweise weiter aus, »dein Mann hat dich wegen einer anderen Frau verlassen. Ganz zu schweigen von unserer Familiengeschichte …«
»Ich bin nicht verrückt, Judith.«
»Du bist in Irland, Herrgott noch mal. Du bist alleine in deine zweiten Flitterwochen aufgebrochen. Findest du das normal?«
»Es ist vielleicht ein bisschen ungewöhnlich, aber …«
»Genauso ungewöhnlich, wie sein totes Kind in den Straßen von Dublin zu sehen?«
Cork, hätte Marcy sie beinahe verbessert, biss sich jedoch auf die Unterlippe. »Ich habe sie nicht gesehen«, sagte sie stattdessen.
»Natürlich hast du sie nicht gesehen«, wiederholte Judith und hielt dann abrupt inne. »Was soll das heißen, du hast sie nicht gesehen?«
»Ich habe sie nicht gesehen. Ich habe mich geirrt.«
»Was soll das heißen?«, fragte Judith noch einmal.
Marcy spürte, wie ihre Schwester angestrengt zu verstehen versuchte. »Ich weiß jetzt, dass das Mädchen, das ich für Devon gehalten habe, nur ein Mädchen war, das ihr vielleicht ein bisschen ähnlich gesehen hat, aber sie war es nicht. Ich habe bloß etwas gesehen, das ich sehen wollte …« Marcy beschwor das Bild des Mädchens herauf, das auf der Fußgängerbrücke zwischen dem Bachelor’s Quay und der North Mall gestanden und gedankenverloren ins Wasser gestarrt hatte.
»Du hast sie nicht gesehen?«
»Es war nicht Devon.«
Judiths Seufzer der Erleichterung war förmlich mit Händen zu greifen. »Woher weißt du, dass sie es nicht war?«, fragte sie argwöhnisch.
»Weil Devon tot ist«, erklärte Marcy ihr.
»Das sagst du doch nicht bloß, weil du denkst, dass ich es hören will?«, drängte Judith weiter.
Genau deswegen sagte sie es, räumte Marcy stumm ein. »Devon ist tot«, wiederholte sie, und jedes Wort stach in ihre Kehle wie ein scharfes Messer, das tiefe, klaffende Wunden hinterließ.
Sie konnte ihre Schwester förmlich nicken sehen. »Okay«, sagte Judith, und dann noch einmal: »Okay.« Eine weitere Pause, ein weiteres Nicken. »Und wo bist du jetzt und wann kommst du nach Hause?«
Marcy log, dieselbe Lüge, die sie Vic Sorvino aufgetischt hatte. »Ich bin in Paris.«
»Das glaube ich dir nicht.«
Marcy seufzte. Vic hatte ihr auch nicht geglaubt. »Ich komme Ende der Woche nach Hause.«
»Warte, wenn du wirklich in Paris bist, habe ich eine gute Idee«, sagte Judith hastig. »Warum nehme ich nicht den nächsten Flug und treffe dich dort? Ich bin sicher, Terry hat nichts dagegen, wenn ich ein paar Tage wegfahre, ehrlich gesagt ist er wahrscheinlich begeistert. Wir können shoppen gehen und uns die Sehenswürdigkeiten angucken, nur wir beide. Komm, sag ja. Es wird bestimmt lustig.«
Wie früher, war Marcy versucht zu sagen, nur dass sie früher nie shoppen waren oder irgendwelche Sehenswürdigkeiten besichtigt hatten. Früher war alles andere als ein Spaß gewesen. »Ich überlege es mir.«
»Was gibt es da zu überlegen?«
»Ich rufe dich an.«
»Sag mir einfach, in welchem Hotel du bist, und …«
»Ich ruf dich an«, sagte Marcy noch einmal und beendete das Gespräch.
Sie stand vom Wannenrand auf, ging nackt ins Schlafzimmer, stieg über die Kleider, die sie auf dem Boden hatte liegen lassen, und warf das Handy aufs Bett. Sie hasste es, ihre Schwester anzulügen. Aber was hätte sie sonst tun sollen?
Sie hätte ihr die Wahrheit sagen können, dachte Marcy, kehrte ins Bad zurück und versuchte ihr Spiegelbild in dem beschlagenen Spiegel zu sehen. »Wer steckt überhaupt in diesem Kopf?«, fragte sie laut, wischte den Spiegel mit dem Unterarm blank und beobachtete, wie er sofort wieder beschlug und ihre verwirrten Gesichtszüge verwischte, bis sie ganz verschwunden waren.
In Wahrheit war sie mehr denn je davon überzeugt, dass Devon lebte, dass sie sie heute Nachmittag wieder gesehen hatte, und dass es nur eine Frage der Zeit war, bevor sie sich wieder über den Weg liefen. So groß war Cork schließlich auch nicht. Morgen würde sie zum Haus der O’Connors zurückkehren, warten, bis ihr Kindermädchen herauskam, und sie den ganzen Tag verfolgen. Sie war sich sicher, dass Shannon sie irgendwann zu Devon führen würde.
Wenn nur dieses Fahrrad nicht aus dem Nichts aufgetaucht wäre und sie umgefahren hätte, dachte Marcy, während sie vorsichtig in die Wanne stieg, wären wir vielleicht schon vereint. Sie hielt die Luft an, als sie das heiße Wasser auf den frischen Prellungen an Armen und Beinen
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