Herzstoss
getrunken. Kaffee hatte die Angewohnheit, direkt durch sie hindurchzufließen, und sie war sich nicht sicher, wann sie zum nächsten Mal Gelegenheit haben würde, eine Toilette aufzusuchen.
Es könnte ein langer Tag werden, dachte sie, als sie zum dritten Mal in drei Minuten auf die Uhr sah. Es war schon halb elf, und nichts war passiert, seit Mr. O’Connor vor zwei Stunden zur Arbeit gefahren war. Immerhin hatte sie ein recht abgeschiedenes Plätzchen neben einem Haus gegenüber gefunden, von dem aus sie das Grundstück der O’Connors im Blick halten konnte.
Bis jetzt gab es nichts zu sehen.
Immerhin schien die Sonne, dachte sie und guckte an den dunklen Wolken vorbei, die sich am Horizont ballten. Und zum Glück war es auch nicht mehr so kalt wie in den letzten Tagen. Vielleicht würde sie sogar ihren Trench ausziehen können, der seit ihrer Ankunft in Irland zu einer Art Uniform geworden war. »Es soll heute einundzwanzig Grad warm werden«, hatte Sadie Doyle beim Frühstück zu einem anderen Gast gesagt, und Marcy hatte das in Fahrenheit umgerechnet. »Tja, das Wetter. Spielt auch immer mehr verrückt.«
»Spielt auch immer mehr verrückt«, wiederholte Marcy für sich und dachte, dass das auch eine ganz gute Zusammenfassung ihrer jüngsten Eskapaden wäre. Mit dem Sprung in der Schüssel könntest du jeden Polterabend schmeißen , hatte Judith gesagt. Dabei wusste sie nicht mal die Hälfte von dem, was passiert war. Sie wusste weder von Vic noch von Liam noch, dass Marcy mit Ersterem schon geschlafen hatte und ernsthaft in Erwägung zog, auch mit dem Zweiten ins Bett zu hüpfen. Was um Himmels willen war los mit ihr? Hatte sie komplett den Verstand verloren? Konnte sie sich wirklich vor einem fünfzehn Jahre jüngeren Mann nackt ausziehen?
Warum nicht, fragte sie sich im selben Atemzug. Männer taten es dauernd und machten sich offenbar keine Sorgen, ob sie neben ihrer jüngeren Partnerin bestehen konnten. Ein unübersehbar schlaffer Hintern oder schwabbelige Muskeln konnten sie nicht abhalten. Trotz schütterem Haar und Bauchansatz fühlten sie sich im Allgemeinen anscheinend recht wohl in ihrer Haut und waren von der eigenen Attraktivität überzeugt, egal wie unberechtigt dieses Selbstvertrauen auch sein mochte. War Peter nicht ein erstklassiges Beispiel?
Nicht, dass Peter kein gut aussehender Mann wäre. Er war groß, schlank und achtete geradezu pingelig auf seine Erscheinung. Außerdem war er »gut bestückt«, wie Judith sich im Bezug auf ihre Ehemänner drei und vier auszudrücken pflegte. Insofern war es nicht komplett überraschend, dass eine Frau wie Sarah, die nur geringfügig älter war als Liam, ihn attraktiv fand. Wobei Marcy sich in weniger nachsichtigen Momenten schon fragte, ob Sarah Peter genauso attraktiv gefunden hätte, wenn er finanziell nicht so gut bestückt wäre.
Ich hätte nicht so viel essen sollen, dachte sie jetzt, als ihr Bauch gegen den obersten Knopf ihrer Jeans drückte. Wenn sie so weiteraß – und trank – wie in den letzten paar Tagen, würde sie derart zulegen, dass Devon sie gar nicht wiedererkannte.
Vorausgesetzt, sie fand sie, fügte Marcy sofort stumm hinzu, gefolgt von einem ebenso unverzüglichen: Natürlich finde ich sie.
Es war nur eine Frage der Zeit.
Vielleicht ja schon heute.
»Entschuldigen Sie, aber können Sie mir vielleicht sagen, was Sie da machen?«
Die Stimme klang gleichermaßen neugierig und empört. Marcy fuhr herum und sah eine Frau mittleren Alters in einem geblümten Hauskleid auf der Treppe vor dem Haus nebenan stehen, Lockenwickler in ihrem braunen Haar und die Hände in die breiten Hüften gestemmt. Fehlte nur noch das Nudelholz, dachte Marcy, lächelte die Frau an und überlegte, ob sie das Weite suchen sollte. Sie machte ein paar zögerliche Schritte auf die Frau zu. »Tut mir leid«, sagte sie und blieb dann stehen, als ihr nichts weiter einfiel.
»Was machen Sie da?«, fragte die Frau noch einmal.
»Ich glaube, ich habe mich verlaufen«, antwortete Marcy matt.
»Verlaufen?«
»Ich war spazieren …«
»Sind Sie Amerikanerin?«, unterbrach die Frau sie.
»Kanadierin. Meine Schwiegermutter ist aus Limerick«, fügte sie hinzu in der Hoffnung, dass das zu ihren Gunsten sprechen würde.
Doch die Frau wirkte sichtlich unbeeindruckt von Peters Stammbaum. »Und wozu lungern Sie dann hinter dem Haus der Murrays rum?«
»Ich hab nicht … rumgelungert.«
»So sah es für mich aber aus.«
»Nein. Ich hab einen Spaziergang
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