Herzstoss
nach Dublin gegangen. Aber das fand ich ein bisschen einschüchternd.« Das Rot wurde noch eine Spur dunkler. »Die Stadt ist so groß. Ich hab mich nie richtig wohlgefühlt. Ich wäre beinahe wieder nach Hause gegangen. Aber dann bin ich hierhergekommen.« Sie seufzte zufrieden. »Hier ist es viel besser.«
»Cork ist eine nette Stadt«, stimmte Marcy ihr zu. »Sehr überschaubar.«
»Ja, genau.«
»Hier ist es bestimmt leichter, Freunde zu finden, denke ich mir«, kam Marcy vorsichtig aufs Thema zu sprechen.
Shannon nickte, und die Röte in ihrem Gesicht, die schon zu verblassen gedroht hatte, erstrahlte mit neuer Kraft. »Es fällt mir immer ziemlich schwer, Freunde zu finden. Ob Sie’s glauben oder nicht, ich bin ein bisschen schüchtern.«
»Wie lange sind Sie schon hier?«
»Etwas länger als ein halbes Jahr. Und seit vier Monaten arbeite ich für die O’Connors.«
»Na, ich bin sicher, in der Zeit haben Sie doch bestimmt mindestens eine Freundin gefunden?«, drängte Marcy bemüht locker.
»Ja, ich denke schon.«
»Das ist doch gut.«
»Ja, ist es.«
So kam sie keinen Schritt weiter, dachte Marcy und wiegte das Baby weiter in ihren Armen. »Und arbeiten Sie hier in der Nähe?«, fragte sie, weil es vermutlich besser war, das Thema zunächst ein wenig zu umkreisen, bevor sie das Gespräch wieder auf Shannons Freundinnen lenkte.
»Ein kleines Stück die Straße hoch.«
»Sieht aus wie eine nette Gegend.«
»Oh, eine sehr nette Gegend, unbedingt erstklassig. Und das Haus der O’Connors ist das größte in der ganzen Straße. Fast auf dem Hügel.« Sie zeigte in die Richtung. »Sie können es gar nicht übersehen. Es ist irre groß. Sogar mein Zimmer ist riesig. Fast so groß wie das Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Ich hab sogar meinen eigenen Fernseher und alles.«
»Klingt wundervoll.«
Sie nickte begeistert. »Ich hatte großes Glück, den Job zu bekommen.«
»Hat Ihnen eine Freundin davon erzählt?« Marcy biss sich auf die Zunge. Noch auffälliger ging es wohl nicht.
Aber Shannon schien es gar nicht bemerkt zu haben. »Nein, es lief über eine Arbeitsvermittlung. Die O’Connors hatten gerade ihr erstes Kindermädchen gefeuert, weil es mit ihr nicht geklappt hatte, und suchten nach einem Ersatz. Man hat mir gesagt, ich soll mich konservativ kleiden und nur etwas sagen, wenn ich angesprochen werde. Offenbar war Mrs. O’Connor nicht besonders angetan von dem ersten Mädchen, weil es zu geschwätzig war und zu kurze Röcke trug.«
Marcy konnte die Anzeige, die die O’Connors vielleicht aufgegeben hatten, förmlich vor sich sehen:
GESUCHT: IM HAUSHALT LEBENDES
KINDERMÄDCHEN
ZURÜCKHALTEND UND SCHÜCHTERN
ATTRAKTIV, ABER UNBEDROHLICH
FEHLENDES PRIVATLEBEN WIRD
VORAUSGESETZT
Shannon entsprach dem Anforderungsprofil perfekt.
»Und was macht Mr. O’Connor?«, fragte Marcy.
»Er ist Bauunternehmer. Die Siedlung, in der wir wohnen ist eins seiner Projekte.«
Marcy nickte und überlegte, wie sie Audrey in die Unterhaltung einführen konnte.
»Sein Vater war Diplomat oder so«, fuhr Shannon unaufgefordert fort. »Er ist vor ungefähr zwanzig Jahren von der IRA ermordet worden, als Mr. O’Connor noch ein Teenager war.«
»Das ist ja schrecklich.«
»Es waren schreckliche Zeiten.«
Marcy nickte. »Und was machen Sie, wenn Sie freihaben?«, fragte sie nach einer kurzen Pause.
»Nicht viel. Lesen, Läden angucken, ins Kino gehen.«
»Was für Filme mögen Sie und Ihre Freunde denn so?«
»Ach, alles Mögliche.«
Na super, dachte Marcy. Wieder eine Sackgasse. Und was nun? Ihr gingen die Fragen aus, von ihrer Geduld ganz zu schweigen. Und das Baby in ihren Armen wurde auch immer schwerer. »Und haben Sie einen Freund?«, versuchte sie es ein letztes Mal.
Shannon schüttelte den Kopf, sodass ihre Röte sich von einem zum anderen Ohr ausbreitete. »Audrey sagt, da hätte ich Glück gehabt. Sie sagt, Jungs machen nur Kummer.«
Bei der Erwähnung von Audreys Namen stockte Marcy der Atem. »Audrey?«, wiederholte sie flüsternd. Hatte sie Shannon richtig verstanden?
»Meine Freundin. Na ja, eigentlich mehr eine Bekannte.«
»Inwiefern?«
»Nun, ich kenne sie eigentlich noch nicht lange. Erst seit ein paar Monaten. Und wir sehen uns auch nicht sehr oft. Ich bin immer ziemlich beschäftigt.«
»Ist Audrey auch Kindermädchen?«
Shannon lachte. »O nein. Ich kann mir Audrey nicht als Kindermädchen vorstellen.«
»Wieso nicht?«
»Ehrlich gesagt glaube ich, sie mag Kinder nicht
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