Herzstoss
Mund. Sie sah ihre Tochter vor sich, als wäre es gestern geschehen. »Den Verdacht hatte ich schon eine Weile«, gab sie zu. »Ihre Stimmung wurde immer düsterer, sie benahm sich zunehmend unberechenbarer. Manchmal redete sie so schnell, dass ich kaum verstehen konnte, was sie sagte. Aber nach diesem einen Zwischenfall konnte ich es nicht länger leugnen.«
»Was haben Sie getan?«
»Nicht genug. Oh, ich bin mit ihr zum Arzt gegangen, habe dafür gesorgt, dass sie Medikamente nimmt und eine Therapie anfängt, ich habe nach Kräften versucht, sie zu trösten …«
»Nichts hat geholfen?«
»Sie mochte die Wirkung der Tabletten nicht.« Als würde sie im Schmetterlingsstil durch einen Sumpf schwimmen , hatte ihre Mutter gesagt. »Sie hat ihren Therapeuten gehasst.« Marcy stockte und schluckte den Kloß im Hals herunter. »Und mich hat sie noch mehr gehasst.«
»Sie hat Sie bestimmt nicht gehasst.«
»Wie kann man jemanden nicht hassen, der einem direkt in die Augen schaut und einen trotzdem nicht sieht?«
»Ich finde, Sie sind sehr hart zu sich selbst.«
»Ich habe sie angelogen, tagein und tagaus.«
»Sie haben sie angelogen? Inwiefern?«
»Ich habe ihr gesagt, dass alles gut werden würde. Wenn sie nur brav ihre Medikamente nehmen würde, würde sich alles fügen, sie müsste bloß Geduld haben und dem Haloperidol eine Chance geben …«
»Das hätte jeder in Ihrer Lage getan.«
»Nein, Sie verstehen das nicht.« Tränen rollten über Marcys Wangen, tropften auf ihre Lippen und schmeckten salzig auf ihrer Zunge. »Ich hatte keine Geduld für irgendwas, nicht für die Weinkrämpfe und Verrücktheiten, nicht für die Typen, die sie mit nach Hause brachte, und nicht für die Schwierigkeiten, in die sie immer wieder geriet. Man sollte meinen, dass ich nach allem, was ich mit meiner Mutter durchgemacht hatte, verständnisvoller sein würde. Aber das genaue Gegenteil war der Fall. Ich hatte einfach keine Lust auf all das. Und ich fühlte mich immerzu schuldig und hilflos und wütend. Und ich habe sie gehasst, weil sie mich gezwungen hat, alles noch mal durchzumachen.«
»Was für Schwierigkeiten?«, fragte Liam.
Was für eine Mutter hasst ihr eigenes Kind, dachte Marcy. »Was?«
»Sie haben gesagt, Devon wäre in Schwierigkeiten geraten? Was für Schwierigkeiten?«, wiederholte er.
»Es gab ein paar Zwischenfälle.« Die Erinnerung ließ Marcy seufzen. »Einmal ist sie in einen Streit mit einem Nachbarn geraten, der sich beschwert hatte, dass das Radio im Garten zu laut lief. Devon hat ihn beschimpft, mit einem Schuh nach ihm geworfen und seinen Kopf nur knapp verfehlt. Und dann hat sie der Mutter einer ihrer Freundinnen ein teures Armband gestohlen, und die Frau hat gedroht, sie anzuzeigen. Ein anderes Mal hat sie sich mit einem Typen eingelassen, obwohl ich versucht habe, sie zu warnen, dass es Ärger geben würde …«
»Aber sie hat nicht auf Sie gehört.«
»Und Peter war auch keine Hilfe. Er wusste nicht, was er machen und wie er reagieren sollte. Devon war immer Daddys Liebling gewesen, und da war nun sein kleiner Engel, das Kind, das ihn ihr Leben lang vergöttert hatte, und er konnte nicht zu ihr vordringen. Er fühlte sich so ohnmächtig. Impotent. Was vermutlich eine Erklärung für Sarah ist. Die andere Frau«, erklärte Marcy, und Liam nickte, als ob keine Erklärung nötig gewesen wäre. »Jedenfalls hat er mir die Schuld gegeben. Er hat es geleugnet, aber ich weiß es. Und er hatte recht. Es war meine Schuld.«
»Wie kommen Sie denn darauf?«
Marcy zuckte die Achseln. »Es waren meine Gene.«
Auf meiner Seite der Familie gibt es keine psychischen Erkrankungen , hatte Peter gesagt, auch wenn er sich später dafür entschuldigt hatte.
Marcy erzählte Liam die Geschichte von Devons »Unfall«, wie sie ihren eigenen Tod vorgetäuscht hatte und verschwunden war.
»Und Sie haben sie für tot gehalten, bis …«
»Ich habe nie geglaubt, dass sie tot ist. Nicht wirklich«, beharrte Marcy. »Und dann habe ich sie an Ihrem Pub vorbeigehen sehen.«
Nun war es an Liam, den Kopf zu schütteln. »Und ich dachte, Sie wären ein Bulle.«
»Was?«
»Als Sie zurück ins Grogan’s gekommen sind, mir das Foto gezeigt und mich gefragt haben, ob ich das Mädchen erkennen würde, habe ich angenommen, Sie sind eine Polizistin oder Privatdetektivin. Auch nachdem Sie mir erzählt haben, dass sie Ihre Tochter ist, habe ich Ihnen nicht wirklich geglaubt. Ich hab einfach angenommen, dass Audrey von ihrer
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