Herzstoss
die lange schmale Nase. Eines dieser Mädchen, die keine Ahnung hatten, wie hübsch sie waren, wahrscheinlich weil ihre Mutter es ihnen nie gesagt hatte.
Sofort sah Marcy Devon vor sich, die störrisch darauf bestand, ihre natürliche Schönheit hinter Schichten von Make-up und schwarzem Lidschatten zu verbergen.
»Danke«, sagte das Mädchen und strich ihr Haar verlegen hinters Ohr. Das Baby in dem Kinderwagen hatte die ganze Zeit nicht aufgehört zu schreien. »Entschuldigen Sie den Radau. Wenn sie sich nicht bald beruhigt, gehe ich weiter.« Sie begann, den Wagen auf der Stelle hin und her zu schieben.
»Nein, das macht gar nichts. Mich stört es nicht.« Marcy stand auf und spähte in den Kinderwagen. »Ein kleines Mädchen, sagten Sie?«
»Ein kleines Mädchen mit schweren Koliken, fürchte ich. Sie schreit seit Mitternacht. Wir sind alle schon halb wahnsinnig.«
»Ist das Ihr Erstes?«, fragte Marcy und hoffte, dass das Zittern in ihrer Stimme sie nicht verriet.
»Oh, das ist nicht mein Baby.« Die junge Frau wurde noch röter. »Ich bin bloß das Kindermädchen.«
Marcy atmete tief ein und versuchte, ihre wachsende Aufregung zu unterdrücken. »Wie heißt sie denn?«
»Caitlin. Caitlin Danielle O’Connor.«
Marcy stockte der Atem. »Hübscher Name.«
»Ja, nicht wahr?«
»Wie alt ist sie?«
»Fast fünf Monate.«
»Sie ist sehr süß.«
»Ja, ist sie. Und sogar noch süßer, wenn sie nicht schreit.«
Marcy streckte die Hand aus. »Ich bin Marilyn«, sagte sie und fragte sich, ob diese Lüge wirklich notwendig war. Aber sie war sich nicht sicher, wie weit sie Shannon die Wahrheit anvertrauen konnte.
»Shannon«, sagte das Mädchen, schüttelte Marcys Hand und lehnte sich auf der Bank zurück. »Sind Sie Amerikanerin?«
Marcy nickte. Manchmal war es leichter zu lügen.
Caitlins Schreie wurden lauter, als wollten sie gegen die Täuschung protestieren.
»Oje«, seufzte Shannon geschlagen.
»Ich könnte sie ein paar Minuten halten, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte Marcy.
»Ich hab überhaupt nichts dagegen«, sagte Shannon, als Marcy das schreiende Baby behutsam aus dem Wagen hob. »Die arme Mrs. O’Connor war die halbe Nacht wach und hat sie herumgetragen. Heute Morgen ist sie vor Erschöpfung beinahe zusammengebrochen. Ich hab die Kleine schon gefüttert, die Windeln gewechselt und sie stundenlang in den Armen gewiegt. Aber es hat alles nichts genützt, also dachte ich mir, dann kann ich auch einen Spaziergang machen, damit die arme Mrs. O’Connor wenigstens ein bisschen Schlaf nachholen kann.«
»Ich bin sicher, sie ist Ihnen sehr dankbar«, sagte Marcy und hielt das Baby eng an ihrer Brust, küsste den zarten Kopf durch das rosa Häubchen und wiegte es sanft hin und her. Nach wenigen Sekunden verstummten die Schreie.
»Mein Gott, das glaub ich nicht«, rief Shannon verblüfft. »Sieht so aus, als hätten Sie Zauberhände. Wie um alles in der Welt haben Sie das gemacht?«
»Übung«, antwortete Marcy stolz. Sie hatte schon immer eine besondere Art mit Säuglingen gehabt. Wann immer eins ihrer Kinder geweint hatte, musste sie es nur in den Arm nehmen und an sich drücken.
Warum hatte dieselbe Magie nicht mehr funktioniert, als Devon älter war? Wann hatte Marcy die Gabe verloren, das Kind, das sie mehr als ihr eigenes Leben liebte, zu trösten?
»Wie viele Kinder haben Sie?«, fragte Shannon.
»Drei.« Jede neue Lüge kam ihr leichter über die Lippen als die vorherige. »Zwei Jungen und ein Mädchen.«
»Ich wette, das Mädchen war am schwierigsten.«
»Ja«, sagte Marcy und dachte: endlich mal die Wahrheit. »Woher wussten Sie das?«
»Ich habe fünf Brüder und zwei Schwestern. Meine Mutter hat gesagt, die Jungs waren ein Kinderspiel, aber die Mädchen hätten sie fast geschafft.«
»Sind Sie aus der Gegend?«
»O nein. Ich komme aus Glengariff. An der Bantry Bay an der Westküste. In der Nähe der Caha Mountains. Kennen Sie das?«
»Nein, ich fürchte nicht.«
»Kein Wunder. Es ist auch nicht direkt eine Touristenstadt. Ich konnte es kaum erwarten, dort wegzukommen«, gestand sie und blickte sich schuldbewusst um, als könnte jemand sie belauscht haben. »Ich konnte es nicht erwarten, in die große Stadt zu kommen. Sobald ich achtzehn geworden bin, war ich weg.«
»So viel älter sehen Sie jetzt auch nicht aus.«
»Ich werde nächsten Monat neunzehn«, sagte Shannon und lief knallrot an.
»Das heißt, Sie sind schon fast ein Jahr hier?«
»Also, zuerst bin ich
Weitere Kostenlose Bücher