Herzstoss
ihr gewesen war. Warum also zögerte sie? Sie versuchte, sich nicht an seine zärtlichen Berührungen zu erinnern, seine Hände, die ihren Körper sanft liebkost hatten. Ja, sie waren gut zusammen gewesen. Vielleicht sogar toll. Aber ein One-Night-Stand war ein One-Night-Stand. Was lungerte er noch herum? »In einer kleinen Bed & Breakfast-Pension in der Western Road«, erklärte sie ihm.
»Ich folge dir.«
Sie war fünfzehn Jahre alt gewesen an dem Tag, als sie das Schlafzimmer ihrer Eltern betreten und den mittlerweile vertrauten Anblick ihrer Mutter gesehen hatte, die nackt in der Mitte des Zimmers stand, der Inhalt ihres Kleiderschranks auf dem Bett verteilt, die Schubladen der Kommode offen und leer, Dutzende zarter Spitzen-BHs und Slips wie Müll auf dem Teppich verstreut. An ihren ausgestreckten Armen hingen sämtliche Halsketten, die sie besaß. Ihre Augen waren rot und verheult.
»Was machst du?«, fragte Marcy, obwohl sie die Antwort so gut kannte, dass sie sie stumm mitsprechen konnte.
»Ich habe nichts anzuziehen.«
Marcy wandte sich achselzuckend ab. Es ging also wieder los, dachte sie, und ihr Magen krampfte sich zusammen. Warum war sie auch nach oben gekommen? Sie hätte einfach frühstücken und mit einem die Treppe hinaufgerufenen Auf Wiedersehen zur Schule aufbrechen können, wie Judith es getan hatte, wie ihre Schwester es jeden Morgen tat. Nie im Leben würde Judith sich in diese Lage bringen – in der Tür des Elternschafzimmers zu stehen und ihre Mutter nackt vor sich zu sehen, ein gutes Dutzend Perlenketten an den Armen wie Lametta an einem vertrockneten Weihnachtsbaum.
Die letzte Episode lag beinahe ein Jahr zurück, ein Jahr, in dem ihre Mutter die ärztlichen Anweisungen gehorsam befolgt und ihre Medikamente genommen hatte, ein Jahr ohne größere Zwischenfälle, ein Jahr relativer Ruhe. Ein Jahr, in dem Marcy sich von einem falschen Gefühl der Sicherheit hatte einlullen lassen. Ein Jahr, in dem sie sich der Hoffnung hingegeben hatte, dass sie eine normale Familie wären. Sie wollte ihre ständige Wachsamkeit aufgeben und sich entspannen.
Und mehr brauchte es nicht, damit alles den Bach runterging, wie sie erkannte, als sie ihre Mutter nackt im Schlafzimmer stehen sah – man musste nur einen Moment lang unachtsam sein.
»Vielleicht kannst du mir helfen, Schätzchen«, sagte ihre Mutter und mehrere Ketten fielen zu Boden, als sie Marcy hereinwinkte. Die Ketten glitten über den Teppich und blieben zusammengerollt vor Marcys Füßen liegen wie bunte Schlangen.
Giftschlangen, dachte Marcy und wich einen Schritt zurück. »Ich komme zu spät zur Schule.«
»Es dauert nur eine Minute.«
»Du solltest dir was anziehen.« Marcy starrte an ihrer Mutter vorbei auf den orange-schwarzen Calder-Druck an der gegenüberliegenden Wand. Es war ihr peinlich, ihre Mutter nackt, ihren einst schlanken Körper nun schwabbelig und von unansehnlichen Venen gezeichnet zu sehen. »Du erkältest dich noch.«
Ihre Mutter lachte, während gleichzeitig Tränen über ihre Wangen strömten. »Man erkältet sich nicht, wenn man nackt ist, Dummerchen. Man erkältet sich, weil man sich einen Virus einfängt. Das weiß doch jeder.«
»Ich muss los.«
»Nein. Bitte lass mich nicht allein.«
»Ich rufe Dad an.«
»Nein, das darfst du nicht. Er ist den ganzen Tag bei Gericht. Ein sehr wichtiger Fall. Wir dürfen ihn nicht stören.«
»Dann rufe ich deinen Arzt an.«
»Der ist im Urlaub.« Ein triumphierender Unterton schlich sich in die Stimme ihrer Mutter, als hätte sie dies von langer Hand geplant.
Marcy ging in das angrenzende Bad, machte den Medizinschrank über dem Waschbecken auf und begann zwischen den diversen Cremes nach den Medikamenten ihrer Mutter zu suchen. »Wo sind deine Tabletten, Mom?«
»Weg.«
»Was soll das heißen, ›weg‹?«
»Ich hab sie ins Klo gespült.« Wieder dieser triumphierende Unterton.
»Bitte sag mir, dass das ein Scherz ist«, erwiderte Marcy, klappte den Klodeckel hoch und starrte in die leere Schüssel. Auf meine Kosten, dachte sie.
»Ich hab schon vor Wochen aufgehört, sie zu nehmen. Ich brauch sie nicht mehr, Schätzchen. Davon ist mir immer bloß übel geworden.«
»Davon bist du gesund geworden.«
»Dann bin ich lieber krank«, antwortete ihre Mutter trotzig.
»Ich muss los.« Forschen Schrittes verließ Marcy das Bad und ging zur Tür. »Ich komme sonst zu spät.«
Die Hand ihrer Mutter auf ihrem Arm hielt sie zurück. Eine weitere Kette fiel zu Boden
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