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Herzstoss

Herzstoss

Titel: Herzstoss Kostenlos Bücher Online Lesen
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und riss, sodass die feinen orangenfarbenen Perlen in alle Richtungen kullerten. »Warum trägst du kein Make-up, Schätzchen? Ein bisschen Rouge oder Mascara würden Wunder wirken und den Blick ein wenig von deinen Haaren ablenken.«
    Statt zu antworten, hatte Marcy eine formlose graue Trainingshose vom Bett genommen und ihrer Mutter an die Brust gedrückt. »Zieh dich an, Mom.«
    »Bitte, bleib doch noch ein bisschen bei mir.«
    »Ich kann nicht. Wir sehen uns später.«
    »Es gibt so viel Grausamkeit in der Welt«, sagte ihre Mutter und löste damit einen weiteren Weinkrampf aus. »All die armen missbrauchten Kinder und Tiere, all die Menschen, die in Armut sterben.« Sie sank zu Boden. »Manchmal bin ich so verzweifelt.«
    Ich habe keine Geduld für deine Verzweiflung, dachte Marcy. »Ich muss los. Ich schreibe in der ersten Stunde einen Französischtest.«
    »Dann solltest du dich beeilen«, wechselte ihre Mutter abrupt die Tonart und scheuchte Marcy mit beiden Händen hinaus. Die restlichen Ketten an ihren Handgelenken fielen zu Boden.
    Marcy drehte sich um und floh aus dem Zimmer.
    »Viel Glück bei deinem Test«, rief ihre Mutter ihr nach.
    »Du hast sie einfach so stehen lassen?«, wollte Judith wissen, als sie sich am späteren Vormittag in den Gängen der Schule begegneten.
    »Was sollte ich denn machen? Du bist ja auch nicht dageblieben.«
    »Was weiß ich? Hast du Dad angerufen?«
    »Er war bei Gericht. Ich habe eine Nachricht hinterlassen.«
    »Sie wird schon klarkommen«, sagte Judith. »Das tut sie doch immer.«
    »Ja«, stimme Marcy ihr zu und dachte, dass sie in der Mittagspause vielleicht nach Hause gehen sollte, um sich zu vergewissern.
    Aber stattdessen zog sie es vor, die Mittagspause mit ein paar Freundinnen in einem Imbiss in der Nähe zu verbringen. Wenn die Erfahrung der letzten fünfzehn Jahre sie eines gelehrt hatte, redete sie sich ein, dann, dass es keinen Unterschied machte, was sie tat. Ihre Mutter würde die kommenden Wochen in einer Abwärtsspirale von Weinkrämpfen und zusammenhanglosem Geplapper verbringen, dann wahrscheinlich ein paar Tage oder vielleicht auch Wochen verschwinden, in denen sie auf der Straße lebte und in Mülltonnen wühlte, bis irgendjemand sie erkannte und nach Hause brachte.
    Und dann würde der Kreislauf von vorne beginnen.
    Aber diesmal tat er das nicht.
    Um zwei Uhr an jenem Nachmittag wurden sie und Judith in das Büro des Direktors gerufen, wo zwei uniformierte Polizisten warteten, um sie zu informieren, dass ihre Mutter sich durch einen Sprung von einem zehnstöckigen Gebäude an der belebten Kreuzung Yonge und St. Clair Street das Leben genommen hatte.
    »Du musst dich nicht schuldig fühlen«, erklärte Judith ihr, als sie darauf warteten, dass ihr Vater sie von der Schule abholte.
    Marcy nickte. Sie fühlte sich nicht schuldig am Tod ihrer Mutter. Sie war erleichtert.
    Und deswegen fühlte sie sich seither immer schuldig.
    »Marcy?«, rief Vic leise vom Bett. »Was machst du?«
    Gute Frage, dachte Marcy und wandte sich vom Fenster ab, wo sie auf die geschlossenen Vorhänge im ersten Stock der Pension nebenan gestarrt und versucht hatte, irgendeinen Sinn in den Ereignissen der letzten vierundzwanzig Stunden zu erkennen. Aber, warum eigentlich Stunden, dachte sie. Was war mit den letzten vierundzwanzig Jahren? Oder den letzten fünfzig? Wann hatte ihr Leben je einen Sinn ergeben? »Wie spät ist es?«, fragte sie und zog ihren pinkfarbenen Bademantel enger um ihren Körper. Was macht Vic Sorvino in ihrem Bett? Wie zum Teufel hatte sie das zulassen können? Wieder . Was war mit ihr los? Ja, er war ein attraktiver Mann, in dessen Gegenwart sie sich begehrenswert, begehrt und sogar schön fühlte. Aber sie war doch kein Teenager mehr, der sich mit ein paar wohlgewählten Worten verführen ließ. Hatte sie überhaupt keine Selbstkontrolle?
    Vic nahm seine Uhr von dem winzigen Nachttisch. »Kurz nach neun«, sagte er, legte die Uhr wieder weg und richtete sich auf, sodass die Decke über seinen nackten Leib rutschte. »Hast du Hunger?«
    Marcy schüttelte den Kopf. »Du?«
    »Eigentlich nicht. Wie geht’s der Backe?«
    »Okay.«
    »Meinst du, das Auge braucht noch mehr Eis?«
    »Nein. Ich hab gehört, der Waschbären-Look wird im kommenden Herbst der letzte Schrei.«
    Vic gluckste und klopfte auf den Platz neben sich. »Komm zurück ins Bett.«
    »Ich glaube nicht, dass das eine so gute Idee ist.«
    »Wieso nicht?«
    »Ich weiß nicht.« Marcy zuckte die

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