Herzstoss
Hände nach ihm ausstreckte.
Sie erwachte von Glockengeläut.
Nur dass es keine Glocken waren, wie sie merkte, als sie sich im Bett aufrichtete und zu ihrer Handtasche auf dem Boden neben dem Bett blickte. Das Läuten kam aus ihrer Tasche. Es war ihr Handy.
Behutsam, um den neben ihr schlafenden Mann nicht zu wecken, nahm Marcy ihre Handtasche mit ins Bad, schloss die Tür hinter sich, hockte sich auf den Wannenrand und spürte das kalte Email auf ihrer nackten Haut. »Hallo?«, flüsterte sie.
»Ich glaube, ich habe sie gefunden«, sagte Liam ohne weitere Vorrede.
»Was?« Träumte sie? »Wie?«
»Na ja, ich habe mich, wie Sie wissen, umgehört, und es sieht so aus, als hätte es sich endlich ausgezahlt. Gerade hat mich ein Bekannter angerufen. Er sagt, ein Mädchen, auf das die Beschreibung Ihrer Tochter passt, hätte vor Kurzem ein kleines Haus gleich um die Ecke von seiner Exfrau gemietet. Er hat sie gestern gesehen, als er seine Kinder besucht hat.«
»Es gibt eine Menge Mädchen, auf die die Beschreibung meiner Tochter passt«, erklärte Marcy ihm.
»Aber dieses heißt Audrey.«
Marcy hielt die Luft an, und schlug die Hand vor den Mund, um ihre wachsende Aufregung zu zügeln. »Wo ist sie?«
»In einem winzigen Dorf ganz in der Nähe. Es heißt Youghal.«
»Jaaol?«, wiederholte Marcy nach dem Gehör.
»Ich hol Sie in zwanzig Minuten ab.«
KAPITEL SECHZEHN
Marcy war schon auf halbem Weg die Treppe des Doyle Cork Inn hinunter, als Vics Stimme sie aufhielt. Sie blieb wie angewurzelt stehen, drehte sich um und sah ihn auf dem oberen Treppenabsatz stehen, ihren pinkfarbenen Bademantel achtlos über die Schultern geworfen und provisorisch in der Hüfte zusammengezurrt, Beine und Füße nackt. Er hatte so fest geschlafen, dass sie ihn nicht hatte wecken wollen. Zumindest hatte sie sich das eingeredet, als sie sich hastig angezogen hatte.
»Marcy, was ist los?«
»Ich muss weg.« Warum hatte sie ihn nicht geweckt? Warum hatte sie ihm nicht gesagt, wohin sie ging? So viel war sie ihm doch zumindest schuldig.
»Wohin? Es ist noch nicht mal halb acht.« Er sah sich um, als würde er trotz seiner notdürftigen Bekleidung in Erwägung ziehen, ihr zu folgen.
»Wir haben vielleicht Devon gefunden«, sagte sie und lief die restlichen Stufen bis zur Haustür hinunter.
»Wer ist ›wir‹?«
Hatte sie Vic deswegen nicht erzählt, wohin sie ging? Wollte sie nicht, dass er sie mit Liam sah? Oder umgekehrt, dass Liam sie mit Vic sah?
Plötzlich tauchte Sadie Doyle in der kleinen Halle auf, bekleidet mit einer Schürze, in der Hand einen Holzlöffel. »Guten Morgen, Mrs. Taggart. Ein wunderschöner Tag heute. Frühstücken Sie mit uns?« Ihr Blick schweifte zur Treppe, wo sie ebenso überrascht wie belustigt den halb nackten Vic Sorvino entdeckte. »Oh. Hallo.«
»Gib mir eine Minute, um mich anzuziehen«, drängte Vic Marcy, ohne Sadie Doyles lüsternen Blick zu beachten.
»Nein. Bitte. Ich weiß nicht, ob genug Platz ist.«
»Ihnen ist doch klar, dass für Übernachtungsgäste ein Aufschlag erhoben wird«, sagte Sadie Doyle zu Marcy, den Blick weiter fest auf Vic gerichtet.
»In Ordnung. Was auch immer.« Marcy hatte die Hand schon an der Klinke.
»Marcy, warte.«
»Ich kann nicht«, sagte sie. »Ich ruf dich später an.« Dann öffnete sie die Tür und rannte aus dem Haus.
»Marcy …«, hörte sie ihn rufen.
Auf der Straße staute sich schon der morgendliche Berufsverkehr. Sie wusste nicht, was für ein Auto Liam fuhr, wie ihr klarwurde, als sie begann, durch die Windschutzscheibe jedes vorbeikommenden Wagens zu spähen. »Wo bist du, Liam?«, rief sie und blickte die belebte Straße hinauf und hinunter. Und wo wollten die Leute bloß alle so früh hin?
Sie sah auf die Uhr. Seit Liams überraschendem Anruf waren noch keine zwanzig Minuten vergangen. In der Zeit hatte sie sich die Zähne geputzt, Jeans und einen grauen Pullover angezogen und ihr ungekämmtes Haar mit einer strassbesetzten Haarklammer zurückgesteckt, aus der sich schon jetzt die ersten störrischen Strähnen lösten und in alle Himmelsrichtungen abstanden wie eine Werbung für Feuerwerkskörper. Sie hatte keine Zeit gehabt, sich zu schminken, sondern nur hastig ein bisschen Lippenstift aufgetragen, als sie auf Zehenspitzen aus dem Zimmer geschlichen war.
Aber das war egal. Sie hatten Devon gefunden. In weniger als einer Stunde würde sie ihre Tochter wiedersehen.
Sie fragte sich noch einmal, warum sie Vic nicht erzählt hatte,
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