Herzstoss
dass Liam angerufen hatte und wohin sie fuhr. Was hatte sie davon abgehalten? In seinen Armen hatte sie sich so geborgen und sicher gefühlt. Zum ersten Mal seit Monaten, vielleicht sogar Jahren hatte sie frei atmen und ihren Kummer kurzzeitig vergessen können. Trotz allem, was passiert war, trotz allem, was die Erfahrung sie gelehrt hatte, hatte sie in ihrer angespannten Wachsamkeit tatsächlich ein wenig lockergelassen.
Aber war das nicht der Augenblick, in dem die Katastrophe jedes Mal zuschlug?
Vielleicht hatte sie es ihm deshalb nicht erzählt.
»Komm schon, Liam«, murmelte sie. Jede Minute zählte. Eine Minute konnte entscheidend dafür sein, ob sie ihre Tochter fand oder wieder verlieren würde. Sie durfte nicht noch mehr Zeit verschwenden.
Marcy überlegte, Liam anzurufen, griff nach dem Handy in ihrer Handtasche und ließ es dann doch. Wenn es ein Problem gab, würde Liam sich melden.
In den Monaten nach Devons vermeintlichem Ertrinken hatte Marcy oft geträumt, dass ihre Tochter sie angerufen und sich irgendwo mit ihr verabredet hatte – bei Starbucks in Spadina Village, neben dem Stand mit Vintage-Modeschmuck von Carole Tanenbaum bei Holt’s, am Anleger der Fähre nach Toronto Island. Und jedes Mal kam irgendwas dazwischen und verhinderte ihr Wiedersehen. Tag für Tag wachte Marcy in einem Meer frustrierter Tränen auf. Irgendwann hörte Peter auf, sie zu fragen, was sie geträumt hatte. Und wenig später stellte er die Versuche, sie zu trösten, ganz ein.
Er hatte es immerhin versucht, musste Marcy zugeben, als sie zum Eingang des Doyle Cork Inn zurückkehrte. Zumindest eine Zeitlang. Bis er ihren Kummer nicht mehr ertragen konnte. Bis ihre Trauer gedroht hatte, sie beide zu überwältigen.
Und dann war er geflohen.
Wie ich jetzt, dachte Marcy, als sie hörte, wie die Tür hinter ihr aufging. Vic, nunmehr vollständig bekleidet, trat heraus und sah sie mit seinen blauen Augen fragend an. »Marcy«, sagte er, und sie spürte, wie sie sich an ihn lehnen wollte.
Im selben Moment ertönte ein lautes Hupen, und ein schwarzer Wagen hielt direkt neben ihr. Die Beifahrertür öffnete sich, und eine Hand winkte sie herein. Dann tauchte ein attraktives Gesicht mit verschlafenen grünen Augen in ihrem Sichtfeld auf. »Steigen Sie ein«, sagte Liam und fuhr schon an, bevor sie richtig saß und die Tür wieder geschlossen hatte.
Marcy drehte sich um und warf einen letzten Blick zu Vic. Was musste er von ihr denken, fragte sie sich und verscheuchte solche Gedanken gleich wieder. Sie hatte Wichtigeres zu tun, als sich um Vics verletzte Gefühle zu kümmern. Später, wenn sie mit ihrer Tochter wiedervereint war, würde sie reichlich Zeit haben, alles zu erklären und wiedergutzumachen.
Devon, dachte sie und sah Vic mit jedem Blick zurück kleiner und undeutlicher werden. Sie hatten Devon gefunden.
Wie würde Devon reagieren, wenn sie ihrer Mutter von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand? Würde sie in ihre Arme sinken oder schreiend weglaufen?
»Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe«, riss Liam sie aus der Zukunft zurück ins Hier und Jetzt. »Der Verkehr war wirklich übel. Mein Gott, das ist ja ein Prachtexemplar von einem Veilchen.«
Sofort hob Marcy die Hand vors Gesicht.
»Tut es weh?«
»Nein. Nicht mehr allzu sehr. Ich habe es mit Eis gekühlt.« Sie legte den Sicherheitsgurt an und warf einen weiteren verstohlenen Blick zurück. Vic stand nicht mehr vor dem Doyle Cork Inn.
»Ich hab Kaffee mitgebracht«, sagte Liam und gab Marcy einen Pappbecher, während sie sich zurücklehnte und versuchte, es sich auf dem Sitz bequem zu machen. »Mit viel Milch und viel Zucker, so wie ich es mag. Ist das okay? Ich wusste nicht genau, wie Sie Ihren Kaffee mögen.«
»Klingt super«, sagte sie, als sie mit zitternden Händen den kuppelförmigen Deckel abnahm und den dampfend heißen Kaffee an ihre Lippen führte.
»Sind Sie nervös?«, fragte Liam.
Marcy nickte.
»Das müssen Sie nicht sein. Wir sollten in etwa einer halben Stunde in Youghal sein, je nachdem wie lange wir brauchen, um aus der Stadt rauszukommen. Also atmen Sie tief durch, entspannen Sie sich und trinken Sie Ihren Kaffee.«
Marcy gehorchte und atmete tief ein, bevor sie einen großen Schluck trank. Sofort klebte der Zucker an ihrer Zunge.
»Zu süß?«
»Alles bestens«, sagte Marcy und verzog das Gesicht.
Liam lachte. »Sie sind keine besonders gute Lügnerin, was?«
»Offenbar nicht«, sagte sie schaudernd, und er lachte
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