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Herzstoss

Herzstoss

Titel: Herzstoss Kostenlos Bücher Online Lesen
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Fingern griff sie erneut in den Umschlag, fand einen zweiten kleineren Umschlag mit der Aufschrift »MOMMY«, nahm das einzelne, gefaltete Blatt linierten Papiers heraus und drehte es in ihren Händen, ehe sie es entfaltete und vor ihre Augen hielt, in denen jetzt Tränen schimmerten.
    Meine wunderschöne Mommy , las sie. Devons krakelige Handschrift tanzte vor ihrem verschwommenen Blick. Ich erwarte nicht, dass du verstehst, was ich tun werde .
    Marcy zitterte. Wann hatte sie je etwas verstanden, was ihre Tochter ihr zu erklären versucht hatte?
    Bitte sei nicht böse und glaube mir, dass ich diese Entscheidung bestimmt nicht leichten Herzens getroffen habe. Ich weiß, wie viel du meinetwegen gelitten hast. Glaub mir, wenn ich sage, dass ich dir nicht noch mehr Kummer machen will . Unfähig weiterzulesen, ließ sie den Kopf sinken. Als sie wieder aufblickte, war sie so tränenblind, dass sie nur noch den letzten Absatz des Briefes lesen konnte. » Ich weiß, wie sehr du dich angestrengt hast. Und ich will, dass du weißt, dass ich dich liebe «, las sie laut und versuchte verzweifelt die Stimme ihrer Tochter zu treffen, von der sie diese Worte nie laut gehört hatte.
    Mit zitternden Händen faltete Marcy das tränenbefleckte Blatt und steckte es zusammen mit den Fotos wieder in ihre Handtasche. Ein paar Minuten später – ihre noch feuchten Locken umrahmten ihr Gesicht wie ein Kranz – schlüpfte sie in die Jeans und den grauen Pullover, die sie den ganzen Tag getragen hatte, und trat aus der Tür.

KAPITEL EINUNDZWANZIG
    Marcy musste beide Seiten der Corn Market Street zweimal abschreiten, bevor sie das Schild des Mulcahy’s entdeckte. Kein Wunder, dachte sie, als sie das verbeulte Schild aus Alteisen sah, auf dem in schwarzer Farbe von Hand MULCAHY’S geschrieben stand, darunter ein wackeliger Pfeil, der eine enge Treppe neben einer uralten Reinigung hinabwies. »Das kann nicht stimmen«, murmelte sie und sah sich um. Aber die sonst so belebte Straße war relativ ruhig. Nur ein paar Leute waren zu Fuß unterwegs, die meisten hatten rasch irgendwo Schutz gesucht, als vor einer halben Stunde plötzlich ein heftiger Wolkenbruch niedergegangen war. Marcy hatte unter der grün-weiß gestreiften Markise einer Metzgerei in der Nähe gestanden, dem gewaltigen Donnergrollen gelauscht und die imposanten Blitze am schwarzen Himmel beobachtet. Ihre Schuhe und Strümpfe waren völlig durchgeweicht, und der Geruch feuchter Wolle mischte sich mit dem von der Dusche an ihrer Haut haftenden Veilchenaroma. Sie konnte von Glück reden, wenn sie sich keine Lungenentzündung holte. Liam hatte recht gehabt. Was machte sie allein an einer verlassenen Straßenecke unter einem verbeulten Schild, auf dem in schwarzer Farbe MULCAHY’S stand, daneben ein Pfeil, der nach unten zeigte?
    Geradewegs in die Hölle, dachte sie melodramatisch und hätte vielleicht gelacht, wenn sie sich nicht so rundherum elend gefühlt hätte. Das war verrückt, dachte sie, als sie die Betontreppe hinabstieg und vor der geschlossenen Kellertür stand. Sie drückte auf die Klinke, doch die Tür war abgeschlossen. Sie klopfte. Niemand antwortete. »Hallo«, rief sie störrisch, obwohl sie wusste, dass die Lokalität völlig verlassen war. »Ist da jemand?«
    Natürlich war niemand da, sagte sie sich, klopfte jedoch unverdrossen weiter. Das Lokal, was für ein Laden es auch immer sein mochte, war offensichtlich geschlossen. Verrammelt und verriegelt. Sie fragte sich, welcher Tag heute war, und merkte, dass sie jede zeitliche Orientierung verloren hatte. Seit ihrer Ankunft in Cork waren die Tage mehr oder weniger ineinander übergegangen. »Hallo«, rief sie noch einmal, weil sie partout nicht aufgeben wollte.
    »Verzeihung«, hörte sie irgendwo über ihrem Kopf eine Stimme rufen. Als sie aufblickte, sah sie ein riesiges Paar Beine in den Himmel ragen. Sie gehörten zu einem Mann, der unverhältnismäßig klein wirkte, was wahrscheinlich an ihrer Perspektive lag. Regentropfen klebten an seinem Schnauzer und glänzten im Licht einer Laterne. Einen Moment lang fragte Marcy sich, ob sie unter Halluzinationen litt.
    »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte er.
    »Ich suche das Mulcahy’s«, sagte Marcy.
    »Sieht so aus, als hätten Sie es gefunden.« Der Mann wies mit dem Kopf auf das Schild.
    »Ist offenbar geschlossen.«
    »Ich glaube, es macht nicht vor zehn auf«, sagte der Mann.
    »Zehn?«, wiederholte Marcy, sah auf die Uhr, konnte das Zifferblatt in

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