Herzstoss
richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen war. War das ernsthaft möglich?
Sie sah Kieran an und staunte über seine Hilfsbereitschaft. Die Freundlichkeit von Fremden, hörte sie Liam sagen. Und er hatte recht. Binnen einer Woche hatte sie das Glück gehabt, ein bemerkenswertes Trio von Männern zu treffen, Vic, Liam und jetzt Kieran, alle bereit und geradezu erpicht darauf, ihr bei ihrer Suche nach ihrer Tochter zu helfen. Nach den beiden letzten lieblosen Jahren ihrer Ehe mit Peter – es waren sogar mehr gewesen, wenn sie wirklich ehrlich war – hatte sie, was Männer betraf, mehr oder weniger resigniert. Und dann war sie Vic begegnet, der ihr das Gefühl zurückgegeben hatte, schön und liebenswert zu sein, und Liam, in dessen Gegenwart sie sich jung und begehrenswert fühlte. Und jetzt fuhr Kieran meilenweit durch den strömenden Regen, wo er ebenso gut in einem trockenen Pub ein weiteres Bier mit seinem Freund Stanley genießen könnte.
Warum, fragte Marcy sich und unterdrückte einen nagenden Zweifel.
Handelte es sich um die Freundlichkeit eines Fremden, oder war es am Ende etwas ganz anderes?
Sie fuhren durch die Wohngebiete von St. Luke’s und weiter Richtung Montenotte. »Wir sind fast da«, sagte Kieran noch einmal.
Was hatte sie geritten, mit einem wildfremden Mann in einen Wagen zu steigen und an einem dunklen verregneten Abend meilenweit durch die Cork Hills zu fahren? Ich hätte ein Taxi nehmen sollen, tadelte Marcy sich. Aber wenn sie Kierans Angebot abgelehnt hätte, wäre er vielleicht so gekränkt gewesen, dass er ihr nicht gesagt hätte, wo sie Audrey finden konnte. Und dieses Wagnis durfte sie nicht eingehen. Sie würde alles riskieren, um ihre Tochter zu finden.
Kurz darauf bogen sie in die Einfahrt einer kleinen zweistöckigen Doppelhaushälfte. »Da wohnt Mrs. Crocker.« Er wies auf ein ähnliches Haus direkt gegenüber.
»Sieht aber schrecklich dunkel aus.«
»Sie sind wahrscheinlich im Kino. Mrs. Crocker liebt Filme. Audrey geht mindestens zweimal die Woche mit ihr ins Kino. Wir können ja mal nachsehen.« Er sprang aus dem Wagen, rannte durch den Regen auf Marcys Seite und öffnete ihr die Tür. Er fasste ihren Ellbogen und führte sie eilig über die Straße zu Mrs. Crockers Haus.
Bitte lass sie zu Hause sein, betete Marcy und suchte unter einer Markise Schutz vor dem Regen, während Kieran an die Tür klopfte. Bitte lass sie sich freuen, mich zu sehen.
Aber nach einer Weile wurde offensichtlich, dass ihre Gebete unerhört bleiben würden. Marcy versuchte, durchs Fenster zu spähen, doch die alten Spitzengardinen waren zugezogen, und ein Blumenkasten vor dem Fenster verhinderte, dass sie näher herantreten konnte.
»Die sind bestimmt bald zurück«, erklärte Kieran voller Gewissheit. »Kommen Sie, Sie werden ja pitschnass. Wir können bei meiner Mum warten.«
»Und Ihre Mutter hat nichts dagegen?«, fragte Marcy, als sie zurück auf die andere Straßenseite gingen.
Kieran zog einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Haustür. »Überhaupt nicht«, sagte er, knipste das Deckenlicht an und schüttelte sich das Wasser aus dem Haar wie ein Hund. »Mum?«, rief er und führte Marcy ins Wohnzimmer. »Bist du zu Hause?« Keine Antwort. »Sie ist wahrscheinlich mit Mrs. Crocker und Audrey ins Kino gegangen. Möchten Sie noch ein Bier?«
Marcy sah sich in dem Zimmer um, das mit einem wuchtigen gold-braun gestreiften Polstersofa und einem passenden Sessel möbliert war. Ein Fernseher mit großem Bildschirm auf einem niedrigen Tisch nahm den größten Teil der gegenüberliegenden Wand ein. »Ich glaube nicht, nein.«
»Ach, kommen Sie«, sagte er, ging in die angrenzende winzige Küche und kam mit einem Bier in jeder Hand zurück. »Das wärmt Sie von innen.«
Bevor sie sich weigern konnte, hatte er beide Flaschen geöffnet und ihr eine gegeben. Dann ließ er sich aufs Sofa fallen und klopfte auf das Polster neben sich. »Setzen Sie sich, Liebes. Entspannen Sie sich.«
»Ich bin zu nervös«, erklärte sie ihm aufrichtig und merkte, dass ihr Unbehagen weniger mit der Aussicht zu tun hatte, Devon wiederzusehen, sondern viel mehr mit ihrer wachsenden Beklemmung, dass sie mit einem Mann, den sie kaum kannte, in einem fremden Haus irgendwo am Ende der Welt hockte. »Und zu nass«, fügte sie aus Angst, ihn zu kränken, noch hinzu. »Ich möchte doch die schönen Möbel Ihrer Mutter nicht ruinieren.«
»Darüber würde ich mir keine Sorgen machen«, sagte er und trank einen
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