Herzstoss
der Dunkelheit jedoch nicht lesen. Wie spät konnte es sein? Höchstens sieben, schätzte sie und lauschte den Glocken der St. Anne’s Shandon Church, die ihre Vermutung bestätigten. Was sollte sie in den nächsten drei Stunden machen? »Sind Sie sicher?«, fragte sie den Mann, erhielt jedoch keine Antwort und bemerkte, dass er weitergegangen war. Ich könnte im Grogan’s vorbeischauen, dachte sie und verwarf die Idee sofort wieder. Mr. Grogan wäre bestimmt nicht begeistert, sie wiederzusehen, und sie wollte nicht, dass Liam ihretwegen Ärger bekam. Er hatte schon oft genug den Kopf für sie hingehalten. Außerdem würde er bloß versuchen, sie zu überreden, ins Hotel zurückzukehren und in den nächsten Flieger nach Toronto zu steigen. Glaubte er wirklich, dass sie in Gefahr war? Sie verwarf den unangenehmen Gedanken, stieg die Treppe hinauf und ging in Richtung Kyrl’s Quay, während leichte Regentropfen auf ihre ohnehin nassen Schultern nieselten.
Das Wasser des North Channels des Lee war dunkel und reißend. Marcy hastete am Ufer entlang, bis sie ein halbwegs einladend aussehendes Pub entdeckte, aus dem ihr traditionelle irische Folkmusik entgegenschlug. Sie stieß die Tür auf und fand sich unvermittelt in einem hell erleuchteten, vollen Raum wieder. Auf einer kleinen Bühne beendeten drei junge Männer gerade ihren letzten Song. »Wir machen eine kleine Pause und sind in einer Viertelstunde wieder für Sie da«, sagte der Bandleader ins Mikrofon, gefolgt von spärlichem Applaus und gutwilligem Johlen.
»Sing ›Danny Boy‹«, rief irgendjemand.
»Sing es doch selbst«, rief eins der Bandmitglieder zurück.
»Oh, Danny Boy«, hob die halbe Kneipe sofort an, erstaunlicherweise in derselben Tonart, während Marcy sich nach einem freien Tisch umsah.
»Suchen Sie mich?«, fragte ein Mann und schob ihr mit dem Absatz seines braunen Stiefels einen Stuhl hin.
Marcy schenkte dem Mann ein Lächeln. Er war Anfang vierzig mit schütterem Haar und dunklen buschigen Augenbrauen. Ein flüchtiger Blick durch den Raum ergab, dass es sonst keinen freien Platz gab. »Vielen Dank, aber ich möchte mich nicht aufdrängen.«
Der Mann wies mit dem Kopf auf den Stuhl. »Was trinken Sie?«, fragte er.
Was soll’s, dachte Marcy und nahm an dem kleinen Tisch Platz. Der Mann sah einigermaßen freundlich aus, und sie musste drei Stunden totschlagen. »Ein Bier vielleicht?«
»Zwei Beamish«, rief der Mann der Kellnerin zu. »Ich heiße Kieran.« Er streckte die Hand aus.
»Marcy.« Sie nahm seine Hand und spürte seinen festen Händedruck, der vielleicht ihre Hand ein wenig zu lange festhielt.
»Woher kommen Sie, Marcy?«, fragte er. »Jedenfalls nicht hier aus der Gegend, so viel ist sicher.«
»Ich bin aus Toronto.«
»Also aus Kanada, ja?«
»Ja.« Marcy lachte, ohne recht zu wissen, warum.
»Sie haben ein nettes Lachen«, bemerkte Kieran.
»Vielen Dank. Sie sind aus Cork, nehme ich an.«
»Hab mein ganzes Leben hier gewohnt. Die beste Stadt der Welt.«
»Es ist wirklich reizend.«
»Und noch viel reizender, seit Sie hier sind.« Kierans braune Augen funkelten übermütig.
Marcy lachte wieder. »Da hat offenbar jemand den Blarney Stone geküsst.«
»Bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Haben Sie Hunger?«, fragte er, als die Kellnerin ihr Bier brachte.
»Ein Sandwich wäre schön.«
»Schinken und Käse?«
»Perfekt.«
»Zwei Sandwiches mit Schinken und Käse«, erklärte Kieran der Kellnerin.
»Vielen Dank«, sagte Marcy. »Das ist wirklich sehr nett von Ihnen.«
»Wie ich sehe, sind Sie vom Regen überrascht worden.«
Marcy fuhr sich verlegen durchs Haar. »Ich muss aussehen wie eine ertrunkene Ratte.«
»Die strahlendste ertrunkene Ratte, die ich je gesehen habe.« Kieran lächelte und entblößte dabei einen bemerkenswerten Überbiss.
Man sollte seine Mutter erschießen, weil sie das nicht hat korrigieren lassen, als er noch klein war , hörte sie Peter sagen.
»Einen Euro für Ihre Gedanken«, sagte Kieran scherzhaft.
»Kennen Sie ein Lokal namens Mulcahy’s?«, fragte Marcy.
»In der Corn Market Street?«
»Ja.«
»Auf jeden Fall nicht Ihre Art von Laden.«
»Warum nicht?«
»Nun, es ist ein bisschen wild. Laute Musik, leichte Mädchen. Hab ich jedenfalls gehört.« Er lachte. »Wieso fragen Sie nach dem Mulcahy’s?«
»Jemand hat mir erzählt, dass junge Leute gerne dort hingehen«, erklärte sie und fügte hinzu: »Ich suche meine Tochter.« Eilig zog sie Devons Foto aus ihrer
Weitere Kostenlose Bücher