Herzstoss
erschöpft, ihre Kleidung stank nach verschüttetem Bier, an ihrem Ärmel war ein Blutfleck, den sie wahrscheinlich nicht herausgewaschen bekam; ihre Füße schmerzten und ihr Kopf noch mehr. Was war bloß mit ihr los, schimpfte sie stumm mit sich, zupfte eine kleine Scherbe der zerbrochenen Bierflasche aus den silbernen Fäden ihres Pullovers und warf sie auf die Straße. Sie fragte sich, ob der Polizist sie bemerkt hatte. Wahrscheinlich nicht, denn sonst hätte er sie sicher nicht gehen lassen. »Wann bin ich so dumm geworden?«, fragte sie laut.
Du warst schon immer naiv , hörte sie Judith sagen.
»Ich war nicht fünfmal verheiratet«, erinnerte Marcy sie. »Na toll«, fügte sie hinzu, »jetzt rede ich schon mit mir selbst.« Sie schüttelte den Kopf. Besser als mit der Polizei, dachte sie, froh, nicht mehr in dem Streifenwagen zu sitzen, und noch froher, dass der Polizist sie nicht zur weiteren Befragung auf die Wache geschleift hatte. Und hatte die irische Polizei eigentlich nichts Besseres zu tun, als unschuldige Touristen zu behelligen?
Oder vielleicht auch nicht so unschuldig. Außerdem war der junge Beamte offenbar ernsthaft um ihr Wohlergehen besorgt gewesen. Gab es ein Problem, hatte er eifrig gefragt. War sie verletzt? War sie angegriffen worden? Wieso wanderte sie alleine in Dunkelheit und Regen durch die Straßen von Cork? Wie viel Alkohol hatte sie getrunken?
Er hatte sie fast eine Stunde auf dem Beifahrersitz seines Streifenwagens sitzen lassen und Smalltalk gemacht, während es weiter in Strömen goss. Er hatte sie höflich gefragt, ob er ihren Pass sehen könne, und ihn gründlich inspiziert, während er von einem Vetter in Hamilton namens Dalton O’Malley erzählte, den sie nicht vielleicht zufällig kannte?
Marcy hatte ihm erklärt, dass Hamilton mit dem Bus etwa eine Stunde von Toronto entfernt sei, sie seinen Vetter zwar leider nicht kenne, er jedoch ganz bestimmt ein netter Mann sei. Und konnte sie jetzt bitte gehen? Der Regen ließ nach, sie wollte dringend zurück ins Hotel.
»In welches Hotel?«, hatte er gefragt.
»Das Hayfield Manor.«
»Nettes Hotel«, hatte er offensichtlich beeindruckt bemerkt. »Ich bringe Sie hin.« Aber kurz nachdem er den Motor angelassen hatte, war ein Funkspruch über einen Einbruch in der Gegend gekommen.
»Fahren Sie«, hatte sie ihm erklärt, als bräuchte er ihre Erlaubnis. »Ich komme zurecht.«
Er hatte noch immer gezögert. »Und Sie gehen direkt zu Ihrem Hotel?«
»Ich schwöre«, sagte sie und, sobald er verschwunden war: »Verdammt!« Mit vorsichtigen Schritten ging sie den steilen St. Patrick’s Hill hinunter und spürte bei jedem Schritt das Ziehen in ihren Waden. Die Worte ihres Fremdenführers fielen ihr wieder ein: »Amerikaner sagen, sie könnten es mit den berüchtigten Straßen von San Francisco aufnehmen.«
»Recht haben sie«, sagte sie, geriet auf dem feuchten Bürgersteig ins Rutschen und riss instinktiv die Hände hoch, um nicht auf die Nase zu fallen. So ging sie den Rest des Weges weiter, als würde sie auf einem Hochseil balancieren. Und vielleicht tat sie das ja auch, dachte sie, sah nicht weit entfernt die St. Patrick’s Bridge und marschierte entschlossen darauf zu. Nie in ihrem ganzen Leben war sie so froh gewesen, eine verdammte Brücke zu sehen.
Judith hatte früher Angst vor Brücken, erinnerte sie sich. Ihre Schwester hatte sich jahrelang geweigert, Brücken zu überqueren, was das Erreichen bestimmter Ziele manchmal mühsam und zeitraubend gemacht hatte. Sie wusste nicht mehr, wann diese Angst aufgehört hatte, wenn überhaupt. Zu Judiths Glück gab es in Toronto nicht viele Brücken.
Grogan’s House lag ganz in der Nähe, und Marcy unterdrückte den beinahe unwiderstehlichen Drang, ihre Schritte dorthin zu lenken. Stattdessen folgte sie weiter der St. Patrick’s Street Richtung Corn Market und fragte sich, was sie eigentlich machte. Ich bin wirklich verrückt.
Verrückte Hexe , hörte sie Kieran irgendwo hinter sich rufen.
Das ist verrückt , sagte Judith in ihrem Kopf. Du kannst nicht alleine weitermachen. Du musst die Realität akzeptieren .
»Es ist deine Realität, nicht meine«, erklärte Marcy ihr.
Die Realität ist, dass Devon tot ist.
»Das wissen wir nicht mit Sicherheit.«
Doch, beharrte Judith. Das tun wir.
Judith war immer so sicher gewesen, dass Devon sich das Leben genommen hatte. Warum hatte Marcy ihr den Brief nie gezeigt?
»Studien haben gezeigt, dass Selbstmord häufig in der
Weitere Kostenlose Bücher