Herzstoss
doch sie hatte es sich anders überlegt. Wieder einmal war sie so nahe vor dem Ziel gewesen, nur um dann doch zu scheitern.
Gab es eine Chance, dass ihre Tochter vielleicht doch noch kam?
»Glaubst du, sie hat einen Typen?«, fragte Shannon.
»Audrey hat immer einen Typen«, gab Jax knapp zurück.
»Weißt du, wer es ist?«
»Nee. Sie erzählt nicht viel über ihn. Ich glaube, er ist älter.«
»Älter? So alt wie Mr. O’Connor, meinst du?«
»Weiß nicht. Sie redet ständig davon, wie reif er ist und so’n Mist. Ist ja auch scheißegal. Du bist hier. Das ist alles, was mich interessiert.«
Selbst in der Dunkelheit konnte Marcy erkennen, wie Shannon rot wurde.
»Ein Glück, dass du genau dann angerufen hast«, sagte Shannon.
»Ja, ich bin schon den ganzen Abend ein Glückspilz.«
»Ich meine, es war ein Glück, dass du heute angerufen hast. Morgen hättest du mich verpasst.«
»Fährst du irgendwohin?«
»Für ein paar Tage nach Kinsale. Einer Tante von Mrs. O’Connor geht es nicht gut.«
»Was hat sie denn?«
»Krebs.«
»Mein Opa ist an Krebs gestorben.«
»Meiner auch. Es ist echt traurig.«
»Und wann kommst du zurück?«
»Sonntagabend.«
»Also nicht so lange.«
»Nein. Nur drei Tage.«
»Ich werd dich trotzdem vermissen.«
»Quatsch. Das sagst du bloß.«
»Es ist die reine Wahrheit. Ich mag dich echt sehr gern. Was? Glaubst du mir nicht?«
Shannon kicherte. »Ich weiß nicht.«
»Meinst du, ich hätte dir die Ohrringe geschenkt, wenn ich dich nicht mögen würde?«, fragte Jax.
Wieder entfuhr Marcy unwillkürlich ein Schrei. Jax’ Kopf schnellte herum. Konnte er sie trotz all des Lärms gehört haben? Marcy wandte sich rasch ab und hielt sich die Hände vors Gesicht.
»Warte einen Moment«, sagte Jax.
»Was ist denn?«
O Scheiße, dachte Marcy und spürte ihn auf sich zukommen. Sie saß in der Falle, so als würde sie mit den Füßen in Treibsand stecken, eingeklemmt zwischen Dutzenden schwitzender Leiber, unfähig, auch nur mit den Zehen zu wackeln. Sie spürte, wie ein Schrei in ihr aufstieg, während Jax sich durch die Menge drängte.
Es dauerte einen Moment, bis Marcy begriff, dass er nicht auf sie zukam, sondern vielmehr in die entgegengesetzte Richtung flüchtete
»Jax, warte. Wohin gehst du?«, rief Shannon ihm nach.
»Bin sofort zurück«, antwortete er und bahnte sich einen Weg zur Tür.
Marcy wollte ihm folgen, schlängelte sich durch störrische Barrikaden von Feiernden, drängte mit den Ellbogen Gruppen von tanzenden Mädchen beiseite und trat anderen auf die Schuhe – »Wohin so eilig, Omi?« –, bis sie die Tür erreichte, mit dröhnenden Ohren in die kalte Nacht hinausschlüpfte und hektisch die Straße auf und ab blickte.
Wohin war er gegangen? Sie rannte die Treppe hoch, als ihr plötzlich bewusst wurde, wie verwundbar sie war. War das von Anfang an der Plan gewesen? Hatte er gewusst, dass sie ihn beobachtete, sich Zeit gelassen und den Köder ausgelegt, wohl wissend, dass sie ihm folgen würde? In einem Raum voller Menschen würde er sie wohl kaum angreifen. Nein, wenn er gerissen genug gewesen war, unbemerkt in ihr Hotelzimmer einzubrechen, war er auch clever genug zu begreifen, dass er warten musste, bis er sie alleine hatte.
Sie hörte ihn, noch bevor sie ihn sah. Er musste gleich um die Ecke sein. »Ich schwöre «, erklärte er gerade, »das hat sie eben gesagt.«
Marcy fragte sich, mit wem er sprach, schlich mit gesenktem Kopf und eingezogenen Schultern an die Mauer gedrückt weiter und spitzte die Ohren. Wer war noch da?
»Okay, also noch mal von vorn«, sagte er, und Marcy kapierte, dass er telefonierte. »Wir sind im Mulcahy’s. Sie stellt sich an, als ob sie von einem anderen Planeten käme, staunt mit großen Kuhaugen über alles, weil sie so was noch nie gesehen hat. Wie ein verdammter Marsmensch. Ja, ich habe ihr die Ohrringe gegeben. Ja, sie haben ihr gefallen. Genau wie du gesagt hast. Die blöde Gans frisst mir aus der Hand. Alles läuft nach Plan. Scheiße, ich komm mir schon vor wie James Bond oder so. Vielleicht sollten wir das Ganze ›Operation Babycakes‹ nennen.« Er lachte. »Und plötzlich lässt die dumme Kuh die Katze aus dem Sack. Sagt, sie fährt für ein paar Tage weg. Nach Kinsale, Mann. Mit der ganzen beschissenen Familie. Mrs. O’Connor hat offenbar eine kranke Tante. Scheißkrebs«, schnaubte er.
Er holte kurz Luft und gab Marcy damit einen Moment Zeit, irgendeinen Sinn in dem eben Gehörten zu finden. Ja,
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