Herzstoss
die beinahe vollkommene Finsternis gewöhnt hatten, und noch länger, bevor ihre Lungen nicht mehr brannten und sie wieder einigermaßen normal atmen konnte. In dem Raum, der bequem Platz für maximal vierzig Leute geboten hätte, drängelten sich mindestens einhundert junge Menschen. In einer Ecke der Bar legte ein schaurig aussehender DJ Platten auf. Er kombinierte Rock und Hiphop, Rap und die Rolling Stones. Überall tanzten die Menschen zu dem gnadenlosen Beat. Manche hüpften auch nur auf der Stelle, als hätten sie einen epileptischen Anfall. Ein paar Mädchen tanzten miteinander, angefeuert von ihren Freunden, die spastisch schwankend am Rand standen und Joints hin und her reichten. Alle lachten und ließen Dampf ab, der aufstieg, giftige Wolken über Marcys Kopf bildete und ihre Luftversorgung zu unterbrechen drohte.
Und dann entdeckte sie sie. Sie standen an der Wand, sodass ihre Gesichter jenseits der wild wippenden Köpfe immer nur kurz zu sehen waren, ihre Körper so eng beieinander, als wären sie miteinander verwachsen. Der Junge flüsterte dem Mädchen etwas ins Ohr, sie kicherte, schlug sich die Hand vor den Mund, um ihr lautes Lachen zu unterdrücken, und sah ihn kurz schüchtern an, bevor sie den Blick wieder senkte.
Marcys Herz schlug schneller, als sie sich wie ein Krebs langsam an der Wand entlang in ihre Richtung drückte, um nur ja kein Aufsehen zu erregen. Sie stand fast neben den beiden, als sie eine feste Hand auf ihrer Schulter spürte.
»’tschuldigung«, sagte ein Mann grob, »aber was glauben Sie, wohin Sie gehen?«
Widerwillig drehte Marcy sich zu der kräftigen Stimme um und betete, dass es kein weiterer Polizist war. Sie hielt das Kinn und den Blick gesenkt, konnte jedoch auch so erkennen, dass der Mann riesig war, mit einer breiten muskulösen Brust unter seinem schwarzen T-Shirt und Bizeps so groß wie Findlinge. »Tut mir leid«, sagte sie unterwürfig, »ich …«
»Zehn Euro Eintritt«, sagte der Mann und hielt seine große verschwitzte Pranke auf.
Marcy griff hastig in ihre Handtasche und gab dem Mann die verlangten zehn Euro. Er drückte ihr einen Stempel auf den Handrücken und verschwand in der Menge. Marcy sah sich verlegen um und fragte sich, ob irgendjemand den Wortwechsel mitbekommen und bemerkt hatte, dass sie mindestens zwanzig Jahre älter war als alle anderen Anwesenden.
Unter dem Vorwand, sich das Haar glatt zu streichen, bedeckte sie das Gesicht mit beiden Händen, hob den Blick und hielt den Atem an. Bitte lass sie noch da sein, betete sie und traute sich kaum hinzuschauen. Was, wenn das kleine Gerangel sie alarmiert und in die Flucht getrieben hatte … »Bitte«, flüsterte sie.
Die beiden hatten sich nicht von der Stelle gerührt.
Gott sei Dank, dachte Marcy und drängte sich näher.
»Ich hab gefragt, wie du das alles hier findest?«, hörte sie den Jungen seiner Begleiterin zurufen.
Marcy war plötzlich dankbar für die lärmende Menge, deretwegen der Junge förmlich schreien musste, um sich verständlich zu machen. Sie musste nur nahe genug herankommen, um unentdeckt lauschen zu können.
»So was hab ich noch nie gesehen«, rief das Mädchen zurück.
»Solche Läden gibt’s in Glengariff nicht?«
»In Glengariff gibt es überhaupt nicht viel.«
Nach ein paar Sekunden fragte der Junge: »Und bist du froh, dass du hierhergekommen bist, Shannon?«
»Das weißt du doch.«
»Ich weiß, dass ich froh bin«, sagte Jax.
Shannon senkte den Kopf, sodass ihr rotblondes Haar über ihre schmale Nase fiel. Sofort strich Jax ihr mit einer Hand die Haare hinters Ohr. In der Dunkelheit sah Marcy ihre eigenen goldenen Ohrringe aufblitzen.
Ihr stockte der Atem, und sie schlug sich die Hand vor den Mund, um keinen Mucks zu machen. Es war also Jax gewesen, der in ihr Hotelzimmer eingebrochen war. Warum? Der Diebstahl ihrer Ohrringe war vermutlich der spontanen Gelegenheit zuzuschreiben, die er sich nicht hatte entgehen lassen können, jedoch wohl kaum der eigentliche Zweck gewesen. Was hatte er sonst noch zu finden gehofft? Die Fotos? Devons Brief? Oder hatte er ihr Zimmer verwüstet, um sie zu warnen, dass sie Ruhe geben, die Stadt verlassen und ihre Tochter in Frieden lassen sollte?
»Ich dachte, Audrey wollte auch mitkommen«, hörte sie Shannon sagen.
»Sie hat es sich wohl anders überlegt. Bist du enttäuscht?«
Shannon kicherte. »Nein. Du?«
»Nö. Eigentlich irgendwie eher froh.«
Tränen brannten in Marcys Augen. Audrey sollte auch hier sein,
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