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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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gelaufen. Er wusste nicht, wo er war, aber jeder Platz war besser als dort drin.
    Die Toten in der Höhle waren keine Kämpfer. Er hatte keine Waffen gesehen. Vielleicht waren es Schmuggler, vielleicht auch nur eine Gruppe, wie ihre es gewesen war. Es mussten mehr als zehn gewesen sein. Er hatte sie nicht gezählt. Das Bild, das er im Schein des Lichtkegels gesehen hatte, hatte sich in ihm eingebrannt. Jemand musste sie überfallen haben. Vielleicht hatten sie sich gewehrt. Hatte jemand überlebt? Wer hatte sie in der Höhle versteckt? Wo waren die Männer, die sie umgebracht hatten?
    Es musste vor Wochen passiert sein. Es war nicht mehr viel Fleisch an den Körpern, es fehlten ganze Gliedmaßen. Die Tiere hatten sich die besten Stücke geholt. Vielleicht gab es hier doch Wölfe? Er war auf den Kleiderfetzen gestanden, die die Tiere auf dem Weg nach draußen mit den abgerissenen und abgebissenen Armen und Beinen verloren hatten.
    Er musste sich übergeben. Galle rann über seine Wange, sein Magen war leer. In seiner Hosentasche fand er schließlich das Feuerzeug. Die Flamme beruhigte ihn. Stundenlang warf
er alles, was er fand, in die schwache Flamme. Trockenes Gras, das er unter den Steinen ausriss, kleine Äste, die neben dem Weg lagen. Das Knie würde heilen. Es war nichts gebrochen. Der tiefe Kratzer blutete und er trocknete das Blut mit seinem Pullover. Er musste mit dem Wasser sparsam sein.
    Er hatte Angst, die Augen zu schließen und wieder die Toten in der Höhle zu sehen, aber die Müdigkeit siegte. Es war eine traumlose Nacht.
    Der Tag brach an, aber er hielt die Augen geschlossen. Solange er sich nicht bewegte, spürte er keinen Schmerz, keine Angst. Sein Geist war noch nicht wach. Er inhalierte die kühle Luft. Solange er stillhielt, war alles in Ordnung. Doch schon stiegen die Bilder der Nacht wieder in ihm auf und er kämpfte gegen die Übelkeit an. Er konnte hier nicht liegen bleiben. Er musste weiter.
    Er atmete noch einmal tief durch, dann öffnete er die Augen. Der Himmel war bedeckt. In seinem Gesicht ertastete er Mückenstiche. Er musste aufstehen. Langsam setzte er sich auf und stemmte sich hoch. Das Knie war angeschwollen und beim ersten Schritt durchfuhr ihn ein Schmerz wie ein Stich mit einem Messer. Tränen schossen ihm in die Augen, während er versuchte, sich irgendwie von dem Schmerz abzulenken und einen Schritt vor den anderen zu setzen.
    Wo war er? Bis gestern Nachmittag war er sicher gewesen, er würde die Männer finden. Er hatte sich am Bergrücken orientiert. Er war an den wenigen Bäumen vorbeigekommen, die ihm auf dem Weg in den Ort aufgefallen waren. Jeder Baum war in der kargen Landschaft ein Blickfang, fast ein kleines Wunder in der lebensfeindlichen Gegend. Nur vereinzelt unterbrachen sie das Grau der Steine, so selten wie die wenigen grünen Flächen, über die er gekommen war.

    Vielleicht wartete die Frau nur auf jemanden? Sie stand mit dem Rücken zu den Zelten und blickte hinauf zu dem Bergkamm, von dem Hesmat gerade abstieg. Er hatte sie lange gesehen, bevor sie ihn entdeckt hatte. Jetzt ging er direkt auf die Gruppe mit der Frau zu. Er hatte keine andere Wahl. Inzwischen war er schon fünf Tage allein unterwegs. Nachdem er sich verlaufen hatte, war er Richtung Norden gegangen. Irgendwann muss ich dort ja auf den Grenzfluss stoßen, hatte er sich gesagt.
    Sein Knie schmerzte, seit zwei Tagen hatte er nichts mehr zu essen, und er hatte sehnlichst gehofft, endlich auf Menschen zu treffen.
    Er blieb stehen und blinzelte. Es war eine Frau, ohne Zweifel, es konnte keine Falle sein. Sie schrie irgendetwas über ihre Schulter. Zwei Männer kamen aus den Zelten und sofort sah er ihre Waffen. Sie würden nicht auf einen einzelnen Jungen schießen. Nicht eine Frau! Sie zögerten.
    Sie gab ihm zu essen und säuberte sein Knie. Als sie ihm die viel zu großen Schuhe auszog, schüttelte sie den Kopf. Seine Fußsohlen waren von Blasen übersät, sein Gesicht war aufgedunsen. Jedes Mal wenn er für ein paar Stunden geschlafen hatte, waren die Mücken über ihn hergefallen.
    Viele von ihnen waren Schmuggler, die an die Grenze wollten. Sie warteten auf einen Lkw, der sie abholen sollte. Seit Tagen suchten sie am Horizont vergeblich nach einem Zeichen ihres Fahrers. Sie schauten auf die Ebene, die sich am Fuß der Berge erstreckte. Man sah die Straße, aber keinen Wagen. Er ließ auf sich warten.
    Die Mudschaheddin, die Hesmat gesucht hatte, waren vor zwei Tagen zu den Händlern gestoßen

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