Hesmats Flucht
meisten von ihnen künftig auf Krücken durchs Leben humpeln würden.
Ein alter Kämpfer humpelte an ihm vorbei, die grüne Hose, die hochgesteckt den Stumpf verbarg, streifte den am Boden sitzenden Jungen an der Schulter. »Wir sind vor den Taliban geflüchtet, aber da hatten sie uns schon umzingelt«, erzählte der Verstümmelte. Danach hatten sie die Gefangenen in ein Minenfeld getrieben. »Ich war der Einzige, der überlebt hat«, erzählte der Soldat.
Drei Mal war Hesmat in dieser Woche zu den Ärzten gegangen und schon bald ließen die Schmerzen in seinem Bein nach. Seine Füße heilten ab, aber jedes Mal beschlich ihn die Scham, wenn er auf beiden Beinen das Krankenhaus verließ. Der lange Fußmarsch, die schlechten Schuhe, der Schmutz und die Insekten hatten seine Füße anschwellen lassen, aber seine Schmerzen waren nichts im Vergleich dazu, was er hier an Schmerzen sah, hörte und roch.
Als sie endlich in Hodscha-Bahaudin eingetroffen waren, konnte er kaum noch gehen. Jeder Schritt war eine Qual, aber dank der Salben der Ärzte erholte er sich. Nachdem er das erste Mal im Krankenhaus gewesen war, hatten die Arzthelfer ihn auf dem Platz vor ihrem Haus untergebracht. Er schlief im Schatten der Steinmauer, im Schatten der Schmerzensschreie. Das
Krankenhaus war der sicherste Ort in dieser Stadt und das Dröhnen des Generators beruhigte ihn.
Noch nie vorher hatte es hier Strom gegeben. Telefone kannten die Menschen nur aus den Erzählungen der Händler. Hier waren seit zwei Generationen alle in den Krieg gezogen, und das Einzige, was jeder von ihnen besaß, war eine Kalaschnikow. Selbst Jungen in Hesmats Alter präsentierten routiniert ihre Waffen. Wenn die Alten nicht kämpften oder verstümmelt aus dem Krieg zurückkehrten, pflügten sie die Felder und schimpften übers Wetter.
Hodscha-Bahaudin war der Ort der Gestrandeten. Und über die zwei Schotterpisten kamen täglich neue. Zu Fuß, mit Eseln, in Fetzen. Ausgehungert und mit der Angst und der Ausweglosigkeit von Flüchtenden in den Augen. Tausende hatten sich in den letzten Monaten hierher durchgeschlagen, viele waren weiter über den Pjandsch in den Norden geflohen, andere wollten nicht über den Fluss, sondern hier den Ausgang des Krieges abwarten. Einer von ihnen war Fahid. Seine Eltern waren kurz nach seiner Geburt aus Duschanbe in den Norden Afghanistans gezogen. Dort waren sein Vater und zwei seiner Brüder im Kampf gefallen. Seine Mutter war eine jener Frauen, die der Krieg verrückt gemacht hatte. Er wollte nach Europa, um Geld für seine ältere Schwester und seinen jüngeren Bruder zu verdienen, die alleine in Afghanistan zurückgeblieben waren. Ein Freund seines einen verstorbenen Bruders lebte in Frankreich und hatte angeboten, ihm zu helfen. Er war seit zwei Wochen unterwegs, als er in Hodscha-Bahaudin landete und auf eine günstige Gelegenheit wartete, um über die Grenze zu kommen. Er war sicher, dass auf der anderen Seite alles einfacher war. Sein Onkel in Duschanbe würde ihm bei der Flucht weiter nach Europa helfen. Er war der Junge mit dem größten Optimismus,
den Hesmat je getroffen hatte. Es gab für ihn keine Probleme, nur Verzögerungen. Alles war nur eine Prüfung, die ihn reifen ließ und ihn niemals von seinem Ziel abhalten konnte.
Er war fünf Jahre älter als Hesmat, und als er den abgemagerten Jungen beim ersten Treffen aus dem Wasser des Flusses rettete, war es, als würden sich Brüder wiedertreffen. Hesmat hatte der Familie, bei der der wohnte, angeboten, Wasser vom Fluss zu holen, und war mit den beiden Kübeln, die über einen dicken Ast links und rechts von seinen Schultern baumelten, losgezogen. Als er den zweiten Kübel aus dem Wasser ziehen wollte, rutschte er ab und fiel kopfüber in die braunen Fluten. Das Wasser war nicht besonders tief, trotzdem schrie er und schlug wild um sich, bis ihn die fremde Hand unter der Schulter packte und ihm Sicherheit gab.
»Ich bin Fahid«, sagte der fremde Junge und streckte ihm die Hand entgegen, als Hesmat nass und verängstigt wieder am Ufer stand. Fahid lachte, und es war ein Lachen, das ansteckte. Obwohl Hesmat nicht wusste, wie sehr das Wasser den Geldscheinen in seinem Gürtel geschadet hatte, begann er selbst zu lachen, wie er es seit Jahren nicht mehr getan hatte.
Hodscha-Bahaudin war gefährlich. An jeder Ecke kontrollierten Mudschaheddin das Geschehen. Viele von ihnen waren jedoch auffällig freundlich zu Jungen wie Hesmat und Fahid und luden sie in ihre Hütten
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