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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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folgten.
    Sie zuckten zurück, die Tragetiere scheuten, und die Gruppe flüchtete hinter Felsen, die am Rand der Ebene noch Schutz boten. Wortlos blickten sie hinaus in die Dunkelheit. Niemand sprach aus, was sie alle wussten.
    Schließlich brach einer der Männer doch das Schweigen. »Wir müssen weiter. In der Dunkelheit haben wir die besten Chancen.«
    Hesmat wartete vergebens auf Protest.
    Die Dunkelheit war ihr Freund und die einzige Waffe, die sie den Taliban in ihren Verstecken entgegenstrecken konnten. Er versuchte, nicht an die Kinder zu denken, die dort draußen tot im Sand lagen. Die Mudschaheddin hatten sie gewarnt. Sie hatten die Warnungen in den Wind geschlagen. Kein Sandkorn hatte sich bewegt, der Wind hatte sie im Stich gelassen und sie hatten sich auf die Menschlichkeit ihrer Henker verlassen.
Doch jeder, der dort draußen unterwegs war, war eine Zielscheibe.
    Sie konnten die Explosionskrater schemenhaft in der Dunkelheit erkennen, als sie sich der Stelle auf der Ebene näherten. Es roch nach verbranntem Fleisch, dem Geruch des Krieges. Die Angst kehrte zurück. Wieder war Hesmat in der Dunkelheit, wieder umkreisten ihn die Toten. Der Tod war hier, direkt neben ihm. Er schlich sich im Dunkel der Nacht immer näher an ihn heran. Egal wie schnell er lief, der Tod folgte ihm auf dem Fuß.
    Wo hatten sich die Taliban versteckt? Hatten sie sie längst gesehen? Vielleicht hatten auch sie diese Brillen, mit denen man in der Nacht sehen konnte, von denen sein Vater ihm erzählt hatte. Hatten sie die Nacht damit besiegt und lachten über die stolpernden, verängstigten Flüchtlinge in der Dunkelheit? Sahen sie ihnen längst zu, wie sie gehetzt, mit zitternden Beinen, über die Ebene liefen, hinfielen, sich wieder aufrafften, tastend nach ihren Taschen suchten, die sie verloren hatten? Liefen sie ihnen unausweichlich in die Arme?
    Bald hatte sich die Gruppe aufgeteilt, und die Jüngsten und all jene, die allein unterwegs waren, hatten sich abgesetzt. Die Alten waren zurückgefallen und Hesmat sah sie nie wieder. Vielleicht waren sie umgekehrt, vielleicht im Fluss, der die Ebene tosend teilte, ertrunken. Wer stolperte, stoppte, keine Luft mehr bekam und sich ausruhen musste, blieb zurück. Wer zurückblieb, war auf sich allein gestellt.
    Als sie den Fluss erreicht hatten, zögerten sie. Irgendjemand sagte, die Brücke sei vermint, sie müssten durch die Fluten. Die Frauen begannen, laut zu weinen und zu jammern, aber das Rauschen des Flusses verschluckte den Protest. Hesmat füllte seine Flaschen und ging auf die Brücke zu. Die anderen folgten.

    »Warum sollten sie eine Brücke verminen, die sie selbst brauchen?«, fragte er und betrat sie als Erster. Als sie auf der anderen Seite wieder sicheren Boden unter den Füßen hatten, hörte er das Lachen der Verzweifelten.
    Innerhalb einer Stunde folgte schließlich die nächste Gruppe. Wieder gab es Explosionen. Niemand weinte, niemand fragte nach ihnen.

ÜBER DEN FLUSS
    Der Arzt zeigte ihm, wie Hesmat das Tuch um seinen Kopf wickeln musste. Als er sich schließlich im Spiegel betrachtete, blickten ihn zwei ihm fremd erscheinende Augen aus dem schmalen Schlitz an. Dann hatte ihm der Arzt vorsichtig die Salbe auf seine Füße geschmiert.
    »Du musst warten, bis sie abgeheilt sind«, sagte er, »vorher kannst du nicht weiter.«
    Fahid hatte ihm von den Ärzten erzählt, die aus einem fremden Land gekommen waren und hier den Minenopfern halfen. In ihren Räumen roch es nach Desinfektionsmitteln und in den Kübeln hatte er das getrocknete Blut der Operationen gesehen. In den vier Räumen stöhnten die Verletzten und warfen sich, vor Schmerzen schreiend und schwer atmend, von einer Seite auf die andere, aber es schien kein Entkommen von den Schmerzen zu geben. Ihre Wunden waren nur provisorisch verbunden, der Verband um die Stümpfe der Minenopfer blutdurchtränkt. Der Ort roch nach Tod.
    Auf der Suche nach einem Arzt war er am Operationsraum vorbeigekommen und hatte die Eisensäge auf dem Tisch liegen
sehen, mit der den Minenopfern die letzten Fetzen ihrer Beine vom Körper gesägt wurden. Er lief ins Freie, wo er im Hof des Krankenhauses den Arzt sah.
    Es hatte sich herumgesprochen, dass man den Opfern hier half, und immer wieder schleppte man die Verletzten, teils nach Tagesmärschen und auf klapprigen Liegen, zu ihnen. Viele hofften auf ein Wunder, aber die Ärzte waren keine Götter. Trotzdem überlebten angesichts der Umstände überraschend viele, auch wenn die

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