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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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großen Floß Hunderte Augenpaare.
    Nur wenige hatten die nötigen Ausweise und Stempel und blickten unsicher von der Fähre zurück auf das Land ihrer Geburt, das sie verließen. Sie drängten sich in der Mitte der Fähre, möglichst weit weg vom braunen Wasser, von den tödlichen Fluten.
    »Du wirst verrückt, wenn du ihr immer nur nachsiehst«, sagte Fahid. »Komm, lass uns loslegen.«
    Fahid verstand einiges von Booten, obwohl der größte Fluss, den er bis dahin gesehen hatte, der Bach in seinem Dorf gewesen war. Irgendwie aber schien er genau zu wissen, was man für eine sichere Überfahrt brauchte.
    »Eigentlich bin ich ein Seemann«, sagte er und lachte über seinen eigenen Scherz.
    Entlang des Flusses gab es genug Männer, die für Geld ein Boot organisieren wollten, aber Fahid lehnte die meisten Angebote ab.
    »Du willst wohl, dass wir ersaufen«, schimpfte er. »Sieh dir die Löcher an! Du bist ja verrückt.«
    Drei Tage später war er schließlich zufrieden von seiner Suche zurückgekehrt. Zusammen mit zwei Männern, die ebenfalls seit Wochen gewartet hatten, kauften sie das Boot. Der Schmuggler schob sich die 100 Dollar in die Tasche und erzählte
ihnen von einer Stelle flussabwärts, die sich anbot und von der angeblich nur wenige wussten.
    Als die Dämmerung anbrach, trugen sie das Boot Richtung Westen. Nach vier Stunden kamen sie endlich an die empfohlene Stelle. Die Grenztürme auf der anderen Uferseite lagen längst hinter ihnen und der Fluss floss an dieser Stelle ruhig und sanft dahin. Das Boot schaukelte leicht unter der Kraft der Ruder und Hesmat beschlich ein neues, unangenehmes Gefühl. Ständig suchte er nach Löchern im Boden, die sie übersehen haben könnten. Aber das einzige Wasser, das ins Boot schwappte, kam von den Paddeln, die kräftig eintauchten, dass es nur so spritzte. Fahid hatte keine Übung im Umgang mit dem Ruder und jeder dritte Schlag glitt an der Wasseroberfläche ab und spritzte Hesmat im hinteren Teil des Bootes nass.
    Dann plötzlich drehte sich das Boot und wurde schneller. Sie waren in die Strömung in der Flussmitte geraten und trieben ab. Fahid und einer der Männer kämpften mit ihren Rudern dagegen an. So schnell wie die Strömung gekommen war, verschwand sie auch wieder. Sie hatten die Flussmitte hinter sich und waren dem rettenden Ufer nahe.
    Als sie schließlich nach einer halben Stunde endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatten, fielen sie sich in die Arme, bevor sie das Boot ans Ufer zogen. Das Boot war schließlich 100 Dollar wert, die sie nicht so einfach wegwerfen wollten.
    »Seid ihr verrückt?«, sagte einer der Männer. »Lasst das Scheißding liegen! Wollt ihr es bis Duschanbe mitschleppen? Das holt sich schon einer und verkauft es drüben wieder. Hier und jetzt werden wir nichts dafür bekommen. Ist euch euer Leben nicht mehr wert?« Er hatte recht. Wie viele Menschen waren in diesem Fluss schon umsonst gestorben? Man brauchte nur etwas Geld, ein gutes Boot und die Sache war einfach.

    Leise robbten sie sich über die Uferböschung nach Tadschikistan und sahen von Weitem die Türme der Grenzposten. Erst jetzt fiel ihnen auf, dass sie sich nie den Kopf darüber zerbrochen hatten, wie es weitergehen sollte. Nach Duschanbe war es ein Fußmarsch von mindestens fünf Tagen. Sie kannten weder das Land, noch wussten sie, wo die Polizei kontrollierte. Es gab nur diese Stadt auf dem Plan, den ihm Tuffon gezeichnet hatte: Duschanbe. Von dort würde der Zug weiter nach Moskau fahren.
    »Glaub mir doch, wir haben eine Glückssträhne«, lachte Fahid und folgte den Männern in die Dunkelheit. »Sie wissen, was sie tun, vertrau mir.«
    Dann hörte Hesmat nur noch seine Schritte. Er schluckte seine Zweifel hinunter und lief hinein in die Dunkelheit, hinein in das fremde Land. Hinein in ein besseres Leben. Das Schlimmste war vorbei.

FREUNDE
    »Verdammt, jetzt geh normal!«
    Fahid fand immer etwas zu meckern. Mal blieb Hesmat ihm zu lange stehen und starrte in irgendein Schaufenster, dann fesselten wieder die Frauen in den Miniröcken seinen Blick. Sie sahen aus wie die Europäerinnen, von denen seine Mutter ihm erzählt hatte. Sie waren geschminkt und stolzierten überheblich in hohen, blitzenden Schuhen durch die Straßen. Sie gingen in Geschäfte, kamen mit vollen Taschen heraus, lachten laut und beschimpften die Männer, die ihnen zu nahe kamen.
    Es war eine fremde Welt. Er hatte noch keine einzige Burka gesehen, noch keine Frau, die das Haus nur mit

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