Hesmats Flucht
ein. Man versprach den Jungen Essen, einen sauberen Platz zum Schlafen, sie könnten für sie arbeiten und man wollte ihnen auch über die Grenze helfen. Das Angebot war für viele der ausgehungerten, gestrandeten Kinder verlockend und einige ließen sich auf das Spiel ein und gingen mit den Männern mit. Fahid wusste, wovon er sprach, wenn er von den leeren Augen der Kinder erzählte. Er selbst war den Männern nur knapp entkommen.
Auch er war hungrig, müde und verängstigt gewesen, als er in die Stadt kam. Auch ihn hatten sie in ihre Hütten eingeladen. Sie gaben ihm köstliches Hammelfleisch und zum ersten Mal seit Wochen war er satt geworden. Dann hatte er die durchsichtigen Plastikpakete im hinteren Raum entdeckt, die sich bis unter die Decke türmten. Jeder Junge in Afghanistan kannte diese Pakete, jeder wusste, womit sich die Kriegsfürsten und sogar die Taliban ihr Geld verdienten. Ganze Lkws voll fuhren durch das Land und verließen Afghanistan über die Grenze in Richtung Russland und Europa.
Trotzdem hatte er noch nie einen derartigen Berg Drogen gesehen. Mit offenem Mund starrte er die Wand an, bis ihm einer der Mudschaheddin, der ihn entdeckt hatte, ins Gesicht schlug. »Verschwinde«, sagte er, nahm Fahid dann aber freundlich an der Hand und führte ihn aus dem Raum. »Komm, mein Sohn«, sagte er, »wir gehen in mein Zimmer.« Fahid zitterte, der Mudschahed spürte seine Unsicherheit und verstärkte den Griff um seine Finger. Mit letzter Kraft und allem Mut, den er aufbringen konnte, riss Fahid sich los und lief aus dem Haus.
Viele gingen den Vergewaltigern in die Falle. Ein knurrender Magen und die Angst im Kopf ließen sie unvorsichtig werden und nur wenige hatten so viel Glück wie Fahid.
Fahid riet ihm, zu den Ärzten zu gehen. Sie würden sich um seine Füße kümmern und ihm auch ein Tuch schenken, wie er selber eines trug. Fahid wusste, wie es lief.
»Sie stehen auf junge Gesichter«, sagte er, »und wenn man keinen Bart hat, so wie du, ist es noch schlimmer. Sie mögen diese weichen Gesichter. Du musst dir ein Tuch umbinden«, sagte er. »Geh zu den Ärzten, die haben eins für dich.«
Fahid kannte zwei Jungen, die bei den Kämpfern lebten. Sie
waren vor vier Monaten in der Stadt gelandet und wollten, wie die meisten anderen, über die Grenze. Sie waren der Einladung gefolgt und waren geblieben. Sie schliefen jetzt in den Häusern der Anführer und hofften auf ihre Barmherzigkeit.
»Sie werden uns mit den großen Hubschraubern ausfliegen«, erzählten sie. »Sie haben sogar schon unsere Papiere.«
Aber es gab keine Hubschrauber. Viele nahmen sich das Leben, sie gingen ins Wasser und kamen nicht mehr zurück.
»Sie verkaufen sie, wenn sie sie nicht mehr brauchen«, warnte ein Einheimischer sie. »Sie bringen sie über die Grenze und verkaufen sie an andere Männer. Seid vorsichtig!«
Die Ärzte kannten die Geschichten, doch sie waren machtlos. Sie waren Gäste im Gebiet der Kämpfer, und wenn sie sich in die Geschäfte der Mudschaheddin einmischten, hatten sie Glück, wenn sie nur aus dem Land flogen. Wie alle beugten auch sie sich den Gesetzen des Krieges.
Niemand im Ort wusste, wie viele bereits im Pjandsch ertrunken waren. Der Fluss war eine unüberwindliche Grenze. Niemand in diesem Land konnte schwimmen, trotzdem hatten viele sich in ihrer Verzweiflung wackelige Flöße gebaut und sich den trägen Fluten anvertraut. Andere klemmten sich in der Hoffnung, irgendwo an die sichere Seite geschwemmt zu werden, einfach an Holzbalken, Autoreifen und leere Fässer, die sie in die Fluten warfen. Aber die Strömung riss die meisten von ihnen in den Tod.
Die, die bis hierhergekommen waren und nicht auf der letzten Etappe sterben wollten, warteten und beteten. Viele, die kein Geld für das Schlepperboot hatten, schauten Tag für Tag über den Fluss auf die Türme der Grenzposten und träumten von einer besseren Welt. Irgendwann überkam sie die Verzweiflung, und sie ließen sich von Betrügern das letzte Geld für falsche
Papiere aus der Tasche ziehen, oder sie begannen, selbst Pläne für eine Flussüberquerung zu schmieden.
Täglich beobachteten Hesmat und Fahid die Fähre, die zwischen den Ufern, zwischen den Welten wechselte. Sie brachte Lebensmittel, Treibstoff für die Jeeps, Nachschub für die Widerstandskämpfer. Wenn sie dann halb leer und mit den wenigen Glücklichen, die Papiere hatten, von der afghanischer Seite ablegte, um auf die tadschikische Seite überzusetzen, folgten dem
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