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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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laut.
    »Du kannst dich ruhig umsehen«, sagte Sayyids Freund. »Hier drinnen tut dir niemand etwas.«

    Die, die hier lebten, hatten ihre Zimmer in kleine Geschäfte umgebaut. Zwischen ihren Betten und Schränken verkauften sie Turnschuhe, Essbesteck, Messer und Klobürsten. Der Lärm kam von einem Zimmer drei Türen weiter. Der Raum war fast bis zur Decke mit Radios vollgestopft und alle spielten unterschiedliche Musik. Es war wie im Irrenhaus.
    »Was tun die Menschen alle hier?«, fragte Hesmat, als sie endlich wieder vor dem Hotel standen.
    »Sie leben hier«, sagte Sayyid, »und das ist nur ein kleiner Teil. Weißt du, wie viel 100 000 Afghanen sind? Die Stadt hier im Süden ist voll von ihnen, du musst nur die Augen aufmachen. Du findest sie überall. Sie sind Freiwild«, erklärte Sayyid. »Die Miliz macht mit ihnen, was sie will. Sie haben keine Rechte. Niemand weiß, wie viele es genau sind, aber es sind zu viele, denken die Russen. Die Milizen haben erst vor Kurzem das Hotel gestürmt, haben mitgenommen, was sie wollten. Glaub mir, es wird nicht lange dauern und es wird Tote geben.«
    Da war sie wieder, die Angst. Auch hier waren sie also nicht erwünscht. Egal wohin sich die Afghanen flüchteten, überall schlug ihnen Hass und Angst entgegen.
    »Wir sind einfach zu viele«, sagte Sayyid. »Wegen ein paar Tausend regt sich niemand auf, aber jetzt, wo es täglich mehr werden, wird es bald wirklich Probleme geben.«
    Hesmat hatte schon auf dem Markt von den Milizen gehört. Die Jungen erzählten sich Schauergeschichten über sie: »Wenn du nicht aufpasst und mal keine fünfzig Rubel in der Tasche hast, um sie zu bestechen«, sagte einer, »verschwindest du schneller, als du glaubst.«
    Sie hatten von der Mafia gesprochen, die alles kontrollierte. Die Märkte, die Milizen, jeden Rubel, der von einer Hand in die nächste wechselte. Immer wieder wurden Leute von den
Schlägern verprügelt. Egal ob Kleinkind oder Großmutter. »Die kennen da nichts«, sagte ein Junge. »Wer seinen Kram an den Mann bringen will, der muss dafür bezahlen. Sie wollen zehn Dollar von mir! Jeden Tag zehn Dollar. Wie soll mir da was zum Leben bleiben?«
    »Wenn die Milizen kein Geld haben, nehmen sie den ganzen Markt auseinander. Wer bezahlen kann, darf bleiben, wer nicht, dem steht eine harte Nacht im Gefängnis bevor. Wir sind nichts als Freiwild, das jeder jagen darf.«
    »Sayyid hat gut reden«, sagten sie. »Er ist lange hier, er kennt die Leute. Ihm wird nichts passieren, aber er hat ja keine Ahnung, wie es uns geht. Frag deinen Freund, wann er das letzte Mal verhaftet wurde! Er verkauft seinen Schmuck an die hübschen Russinnen und wird jeden Tag reicher. Er hat keine Probleme. Er ist keiner mehr von uns, er hat Afghanistan verraten.«
    Es tat weh, die Fremden so über seinen Freund sprechen zu hören. Sayyid war stolz darauf, Afghane zu sein. Er hatte einen starken russischen Akzent in seinem Paschtu, aber im Herzen war er ein Mann vom Hindukusch geblieben, und sie sollten doch alle zusammenhalten. Hesmat beschloss, ihm nichts von den Neidern am Markt zu erzählen.

ERINNERUNGEN AN ZU HAUSE
    Sayyids Neugier war nicht zu bremsen. Er gab nicht auf und drängte Hesmat immer wieder, ihm mehr von der Situation in Afghanistan zu erzählen. »Woher weißt du so viel über Moskau?«, fragte er. »Und was ist mit deinem Vater passiert?«
    Hesmats Vater hatte für die Russen gearbeitet. Er verdiente gut und konnte sich ein großes, wunderschönes Haus leisten. Sie hatten Strom und fließendes Wasser. Einen Luxus, den nicht nur der Schwiegervater verachtete - und trotzdem genoss. Es war ein kleines Paradies inmitten der heruntergekommenen, staubigen braungrauen Stadt während des Krieges.
    Die ersten Gerüchte kamen auf, als sich das Ende der russischen Besatzung abzeichnete. Den Gerüchten folgten Anspielungen und schließlich Drohungen und Hass, aber Flucht kam für seinen Vater nicht infrage. Immer wieder drängte ihn seine Frau dazu, sprachen sie über Pakistan oder den Iran, wo sie sicher leben könnten. Er aber war stolz auf das Land und überzeugt davon, dass es untergehen würde, wenn die Männer anfingen, es zu verlassen. Schließlich hatten die Russen verloren und mussten aus Afghanistan abziehen.

    Sein Vater versuchte zu diesem Zeitpunkt, ihre Zukunft abzusichern. Er wusste, dass die Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei, die sich noch an der Macht hielt, bald lebensgefährlich sein würde. Zu lange hatten die Menschen

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