Hesmats Flucht
Regale gesehen. Man musste einfach nur zugreifen. Es gab, was das Herz begehrte. Keine Spur von Mangel.
»So muss das Paradies sein«, sagte er.
Sayyid lachte. »Aber das Paradies ist teuer.«
Mit jedem Schritt, den er tat, fühlte er sich schlechter. Er hatte im Mittelalter gelebt und es nicht einmal gewusst. Die Welt war so groß, und schon hier in Moskau gab es tausend Dinge, die er noch nie gesehen hatte. Wie erst London sein musste? Die Stadt, wie seine Mutter gesagt hatte, mit der sich nicht einmal Moskau messen konnte? Als sie in die Wohnung zurückfuhren, wurde Sayyid ernst.
»Bist du dir sicher?«, fragte er. »Willst du wirklich weiter?«
»Ich habe es doch bis hierher geschafft«, sagte Hesmat, »und Tuffon meinte, wenn ich in Moskau bin, bin ich auch schon fast in London.«
»Mein lieber Freund«, sagte Sayyid, »es tut mir leid, aber Tuffon hat keine Ahnung, wovon er spricht. Es ist nicht so einfach, wie du dir das vorstellst.«
Hesmat war verwirrt.
Sayyid wechselte das Thema. »Ich habe Arbeit für dich«, sagte er. »Du kannst morgen anfangen. Ich kann dir einen Pass besorgen, und du kannst hierbleiben, wenn du willst.«
»Aber ich muss nach London«, sagte Hesmat, »jetzt erst
recht.« Sein Onkel war auf dem Weg dorthin und er musste ihn finden. »Dann werden wir meinen Bruder holen und es wird alles gut.«
»Lass dir Zeit«, sagte Sayyid. »Überleg es dir.«
»Ich habe es mir überlegt«, sagte Hesmat. »Du hast gesagt, du hilfst mir!«
Die Weltstadt hatte auch ihre hässlichen Seiten, von denen Sayyid ihm lange nichts gezeigt hatte. Dinge, vor denen Hesmat eigentlich geflüchtet war. Dinge, die nicht in diese Welt passten.
»Fast 100 000 Afghanen leben inzwischen hier«, erzählte Sayyid schließlich. »Die meisten leben versteckt. Wenn sie den Milizen oder Schlägertrupps in die Hände fallen, gibt es Probleme.« Einige waren für immer verschwunden und ihre Leichen wurden nie gefunden. »Du musst vorsichtig sein! Und ich will nicht, dass du allein durch die Stadt ziehst.«
Hesmat hatte ihn ungläubig angeschaut. Was ihm sein Freund erzählte, konnte einfach nicht stimmen. Nicht in einer Stadt wie Moskau. Er konnte sich nicht vorstellen, dass hier Dinge passierten, die er nur aus Afghanistan kannte.
Zwei Tage später fuhren sie mit der U-Bahn zum Hotel Sewastopol und Sayyid bewies ihm das Gegenteil. Als sie aus der U-Bahn stiegen, sah er die vier riesigen Plattenbauten, die ihn an die großen Gebäude entlang der Bahnstrecke erinnerten.
»Es sind sechzehn Stockwerke«, sagte Sayyid, »und hier leben fast 3000 Afghanen.«
Am Eingang standen Afghanen, die Eintritt verlangten. Sie wollten 8 Rubel. Sayyid zahlte fünf und schob Hesmat vor sich her in das Hotel. Es roch nach Reis und Gummi und der Lärm war schlimmer als auf jedem Markt. In der Halle verkauften Afghanen und Tadschiken Nudeln und Kaffee. Hesmat sah ein
paar Hazara, die sich herumdrückten und die Fremden kritisch beäugten.
Zu Hause waren Hazara die brutalsten Krieger gewesen, die Hesmat kannte. Die Granaten waren ihnen wie Ketten um den Hals gehangen, das lange, schmutzige, oft rote Haar tat sein Übriges. Jeder Junge hatte damals Angst vor ihnen, man musste einfach Angst vor ihnen haben. Als die Taliban Mazar zurückerobert hatten, nahmen sie jedoch auch an den Hazara schreckliche Rache. Hesmat erinnerte sich, wie die Hazara damals verstümmelt zu Hunderten in den Straßen lagen. Die Stadt war von Blut rot gewesen, überall hatten Leichen gelegen, Frauen mit aufgeschnittenen Bäuchen, abgehackten Brüsten, tote Kinder mit abgeschnittenen Ohren, Väter ohne Nasen und mit ausgestochenen Augen. Dann hatte er einen Jungen in seinem Alter gesehen, der einem angeschossenen Hazara, der sterbend auf der Straße lag, mit einem Stein so lange auf den Kopf geschlagen hatte, bis ihm der Schädel geplatzt war und der Körper zu zucken aufgehört hatte. Immer wieder träumte er davon. »Das ist das Ende«, hatte sein Vater damals gesagt. Die Stadt war abgeriegelt und niemand konnte mehr unbemerkt hinaus.
»Was ist mit dir?«, fragte Sayyid.
»Nichts, nur Erinnerungen. - Was wollen wir hier?«, fragte Hesmat, um abzulenken.
»Ich muss einen Freund besuchen«, sagte Sayyid.
Sie stiegen in den achten Stock, wo Sayyid schließlich seinen Bekannten fand, der zwischen Staubsaugern saß, die praktisch das ganze Zimmer füllten. Sie umarmten sich, dann sprachen sie über Hesmat. Er verstand kein Wort. Es war einfach viel zu
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