Hesmats Flucht
wie Leintücher in den Angeln, die letzten Glassplitter spiegelten den Mond. Die Fremden hatten das ganze Haus auf den Kopf gestellt, alles auf den Boden geworfen und durchsucht.
Er überlegte. Er wollte nicht wieder zurück in das Loch. Warum sollte er auch? Sie waren da gewesen und hatten nichts gefunden. Er musste auf seinen Vater warten. Doch vor allem hatte er Hunger und Durst.
Der Nachbar erschrak, als er die Tür öffnete. Er erkannte den Jungen kaum wieder. Erst als Hesmat den Mund öffnete, war er sich sicher. Er umarmte ihn und zog in schnell ins Haus. Woher kam der Junge? Was war mit ihm passiert? Er war voller Schmutz, vollkommen ausgemergelt und er stank erbärmlich. Seine Frau brachte Brot, und gemeinsam beobachteten sie den Jungen, der das Brot wie ein Tier in sich hineinstopfte. Der Junge stellte immer wieder dieselbe Frage: »Wo ist mein Vater?«
Seine Frau begann zu weinen und ging hinaus.
»Er ist tot, mein Junge«, brachte der Nachbar schließlich über die Lippen. »Sie sind gekommen und haben ihn getötet. Wo warst du? Wir haben dich tagelang gesucht. Du musst weg von hier. Ich bring dich zu deinem Großvater.«
Es dauerte ein paar Tage, bis Hesmat langsam zu verstehen begann, was passiert war.
»Es war an einem Nachmittag vor drei Tagen«, erzählte sein
Großvater. Die sechs Männer hatten seinen Vater gefunden und waren mit ihm zu seinem Haus gefahren. Immer wieder hatten sie ihn gefragt, wo er das Gold versteckt habe. Er gab ihnen immer wieder dieselbe Antwort. Er habe kein Gold. Sie müssten ihm glauben. Er würde es ihnen geben, aber er habe nichts. Sie schlugen ihn. Drei Männer hielten ihn fest, während die anderen abwechselnd auf ihn einschlugen.
Niemand war ihm zu Hilfe gekommen. Alle hatten zugesehen. Die Nachbarn, sein Großvater. Alle hatten zugesehen, wie sie seinen Vater umbrachten. Es hatte zwei Stunden gedauert, in denen sie ihn blutig schlugen und mit Wasser übergossen, wenn er bewusstlos wurde. Dann begannen sie von Neuem. Niemand schritt dagegen ein, niemand gab seinem Vater eine Chance.
»Warum glaubt ihr mir nicht?«, war das Letzte, was er gesagt hatte. Dann schoss einer der Männer ihm in den Hinterkopf.
»Wir konnten nichts tun«, sagte sein Großvater immer wieder. »Sie haben ihm nicht geglaubt, sie hätten auch uns nicht geglaubt.«
»Wo ist mein Vater jetzt?«, fragte Hesmat.
»Wir haben ihn begraben. Es ist alles erledigt. Wenn du alt genug bist, werde ich dir das Grab deines Vaters zeigen.«
Hesmat war elf Jahre. Er erfuhr nie, wo seine Eltern begraben lagen.
Sayyid war ruhig geworden. Kein einziges Mal hatte er Hesmat unterbrochen, jetzt rannen ihm die Tränen über die dicken Wangen und er wollte Hesmat umarmen, aber der Junge wehrte ab.
»Und dann haben sie mich nach Kabul geschickt«, erzählte er weiter.
Plötzlich brach alles aus ihm heraus. Noch nie hatte er jemandem die ganze Geschichte erzählt, die zu seiner Flucht geführt hatte. Wie sollten die Menschen auch verstehen, dass einem elfjährigen Jungen nichts blieb als die Flucht. Die Flucht aus einem Land, in dem seine Mutter gestorben und sein Vater umgebracht worden war und der Familienclan nichts von ihm wissen wollte.
»Sie hatten ja alle nur Angst«, erzählte er weiter. »Angst, dass sie wegen mir und dem angeblichen Schatz Probleme bekommen würden. Und so haben sie mich dann zu einer Tante, die ich nicht kannte, nach Kabul geschickt«, erzählte Hesmat. »Drei Tage waren wir über den Hindukusch und durch den Salang-Tunnel über die ewig löchrigen Straßen unterwegs, bis ich endlich mit dem Sammeltaxi bei der schrecklichen Tante in Kabul ankam. Sie ist verrückt geworden, weil ihr Mann im Krieg gestorben war und sie allein mit den zwei nutzlosen Söhnen zurechtkommen musste. Das waren vielleicht zwei Kerle!«
Stundenlang saß er in Kabul vor dem Haus seiner Tante und blickte hinüber zu den gewaltigen Riesen, die majestätisch über die Probleme der Menschen wachten. Der Hindukusch herrschte über das Land wie ein unerreichbarer König und er trug stolz seine Krone aus Schnee und Eis. Doch zu seinen Füßen lag eine sterbende Stadt. Jahrelange Kämpfe hatten Kabul ins Mittelalter zurückgebombt. Während es im Norden der Stadt noch intakte Häuser, Straßen und sporadisch Strom und Wasser gab, war der Süden, in dem seine Tante wohnte, eine einzige Wunde.
Niemand blickte auf die Berge. Wer den Kopf zu hoch trug, war für die Taliban, die alles kontrollierten, verdächtig.
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