Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
Vom Netzwerk:
tot war. Bachtabat, der jetzt Angst bekommen würde. Es bestand kein Zweifel, dass ihn Hanif umbringen
würde, wenn er vom Tod seines Neffen erfuhr. Hesmat zögerte. Es waren genug Menschen gestorben und so steckte er Hanifs Telefonnummer zurück in seinen Rucksack.
    Die Blicke wechselten zwischen den Scheinen und Hesmat hin und her. Acht Augenpaare waren auf ihn gerichtet.
    »Wie viel?«, fragte Sayyid.
    »Es müssen noch 3800 Dollar sein«, sagte Hesmat leise.
    Tuffons Worte waren ihm Sicherheit genug gewesen. Kurz hatte er gezögert. Vertraue niemandem. Aber wenn er einem Freund seines Vaters nicht trauen konnte, wie sollte er dann je sein Ziel erreichen? Er hatte seinen Gürtel gepackt, mit einem raschen Schnitt die Naht aufgetrennt und die Scheine vor sich ausgebreitet.
    »Reicht das bis nach London?«, fragte er.
    Sayyid nickte.
    »Lass uns gehen«, sagte er. »Du solltest nicht so viel Geld mit dir herumtragen.«
    Hesmat hatte nicht verstanden, was sein Vater damit gemeint hatte. »Eine Weltstadt«, hatte er gesagt, »Moskau ist eine Weltstadt.« Er hatte die Arme ausgebreitet, um seinem kleinen Jungen die unglaubliche Größe der Stadt zu verdeutlichen. »Es gibt nichts, was es in Moskau nicht gibt.« Hesmat hatte das Leuchten in den Augen seines Vaters gesehen. Er erzählte ihm vom Roten Platz, vom Leninmausoleum, von der U-Bahn. Doch ein Zug, der unter einer Stadt fuhr, war für ihn unvorstellbar.
    Seine Mutter hatte gelacht. »Er glaubt dir die Dinge nicht, wenn er sie nicht selbst gesehen hat.«
    »Du wirst es irgendwann sehen«, hatte sein Vater daraufhin gesagt. »Irgendwann, wenn dieser Krieg vorbei ist, wirst
du es mit deinen eigenen Augen sehen. Dann wirst du mir glauben.«
    Hesmat stand am Ticketautomaten und blickte auf die blinkende Anzeige. Die Russen hinter ihm hatten es eilig und drängten ihn zur Seite.
    »Komm«, sagte Walera, »die Leute wollen weiter.« Immer wieder griff sie nach seiner Hand. Immer wieder zog er seine Hand zurück. Er war kein kleines Kind mehr. Er konnte selbst auf sich aufpassen.
    Sie war hübsch und sie hatte ein wunderbares Lachen. Sie lachte oft und meist über Kleinigkeiten, die Hesmat nicht verstand. Er hatte noch nie jemanden gesehen, der so herzhaft lachen konnte. Freiheit bedeutete, zu lachen, dachte er. Nur wer in Moskau lebt, kann wirklich lachen. Nur wer frei ist, kann unbeschwert lachen. Wer Angst vor der nächsten Explosion, dem nächsten Angriff, den fremden Männern vor dem Haus, den Weidenruten der Taliban hat, kann nicht lachen. Afghanistan hat sein Lachen verloren.
    Sie lachte wieder. »Jetzt komm endlich, Hesmat, träum nicht! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.« Sie hatte seine Hand gepackt und ließ sie nicht mehr los.
    Sie zog den Jungen die Treppe hinunter, immer tiefer und immer weiter hinunter in die Erde. Doch es gab immer noch ein Stockwerk, wie in einem Ameisenbau, und aus jedem Loch krochen Menschen. Alle hatten es eilig. Mit dem Lachen kommt auch die Eile. In Afghanistan kannte man diese Eile nicht. Er war nervös, er wollte nichts falsch machen und zögerte lange, bis er auf die Rolltreppe stieg.
    »Ich bin wie ein wildes Tier, das zum ersten Mal die Zivilisation sieht«, sagte er.
    Sie lachte. »Mein Wilder!«

    Dann waren sie auf die Rolltreppe gestiegen, und Hesmat begriff, was sein Vater unter einer Weltstadt verstand. Er hörte so viele Sprachen, sah so viele verschiedene Gesichter, roch tausend fremde Gerüche, die sich doch glichen, sah Frauen in engen Hosen, Polizisten mit Maschinengewehren, die ihm Angst machten, Soldaten mit Freundinnen im Arm, schlafende Menschen, die zwischen den Füßen der Dahinstürmenden träumten. Er sah Bildschirme mit Nachrichten aus aller Welt, hörte Musik aus Kopfhörern, die Jugendliche über ihre Köpfe gespannt hatten, während sie vor sich hin starrten, als gehörten sie nicht in diese Welt.
    Die U-Bahn schepperte und quietschte auf ihrem Weg durch die Stadt, und es dauerte ein paar Minuten, bis er den Schrecken vor den unberechenbaren Bewegungen der Bahn und dem lauten Quietschen überwunden hatte und nicht mehr jedes Mal wenn das Licht kurz ausfiel, zu zittern begann.
    Auf farbigen Tafeln sah man die Stationen, die vor ihnen lagen, und die Stationen, an denen sie vorbeigehuscht waren. Tausende Menschen stiegen unsichtbar gesteuert gleichzeitig aus, Tausende andere wieder ein. Es war ein Kommen und Gehen. Jeder, wohin er wollte.
    Das ist Freiheit, dachte Hesmat. Trotzdem waren die Blicke der

Weitere Kostenlose Bücher