Hesmats Flucht
Menschen nicht fröhlich. Vertraue niemandem, fiel ihm ein. Vielleicht wollte niemand sich sein Glück ansehen lassen. Er würde Sayyid fragen. Der konnte ihm das sicher erklären.
Auf den Tafeln in den Waggons sah er das Spinnennetz, das die U-Bahn unter der Stadt zog. Er versuchte, sich vorzustellen, wie lang diese Gänge waren, und zählte die Sekunden und Minuten, die sie von einer Station zur nächsten brauchten. Sie hatten sich nur einen kleinen Punkt weit auf der Karte fortbewegt. Es mussten Tausende Kilometer sein, dachte er. Sayyid konnte ihm sicher auch alles über die U-Bahn erzählen.
Das Schütteln der Bahn warf ihn an Waleras Brust.
»Du bist aber ganz schön stürmisch«, lachte sie.
Hesmat verstand nicht, was sie damit sagen wollte.
»Sie ist ein wenig verrückt«, hatte Sayyid gesagt und gelacht, »aber ohne sie wäre ich aufgeschmissen.«
Die U-Bahntunnel waren eine eigene Welt. Eine Welt ohne Sonne, in der es trotzdem keine Nacht gab. Bei jeder Einfahrt in eine neue Station wurde der Zug in grelles elektrisches Licht getaucht.
Er lief Walera voraus in Richtung der Rolltreppen. Stockwerk um Stockwerk ging es jetzt nach oben, hinaus aus dem Ameisenbau, hinauf an die Oberfläche. Er war enttäuscht, als er sah, dass es zu regnen begonnen hatte. Wer aus einem solchen Loch stieg, sollte die Sonne sehen, fand er, aber selbst bei Regen war die Stadt unbeschreiblich.
Walera hatte ihn in ein Kaufhaus mitgenommen.
»Du wirst so etwas nicht mehr so schnell zu sehen bekommen«, hatte Sayyid gesagt, »geh mit, aber verlier sie nicht aus den Augen.«
Wieder stand er wortlos in einer fremden Halle. Alles glänzte. An den Wänden hingen riesige Bilder halb nackter Frauen, deren Kurven nur von einem durchsichtigen Stoff bedeckt waren und dadurch erst recht die Blicke anlockten. Er schämte sich, dass er die Frauen auf den Plakaten anstarrte und seinen Blick doch nicht senken konnte. Erst als er fühlte, wie er rot wurde, drehte er sich um.
Walera lachte, wie immer.
Hesmat fühlte sich zum ersten Mal wie ein junger Mann und wusste nicht, ob das Gefühl von den Plakaten, den Düften, den Büstenhaltern oder den Stoffen kam, die ihn nicht mehr losließen.
»Du bist mir ein Schürzenjäger«, sagte sie.
Sie sprach von Dingen, die er nicht verstand. In einer Weltstadt wie dieser redeten Menschen von Dingen, von denen er keine Ahnung hatte. Ständig machten sie Aussagen, die sehr wichtig klangen, und er wusste doch nicht, wovon sie redeten. Es war fast wie eine andere Sprache.
Walera ließ sich von der Verkäuferin eine Tasche geben. »Hab ich bestellt«, erklärte sie und nahm ihn wieder an der Hand.
Hesmat hatte in Mazar immer das Gefühl gehabt, alles zu besitzen, was man brauchte. Seine Freunde waren neidisch auf ihn gewesen. Sein Vater hatte seiner Familie alles geboten, was man sich in Afghanistan nur vorstellen konnte. Selbst einen Fernseher und eine Satellitenschüssel hatten sie gehabt. Was konnte es noch geben?, hatte er damals gedacht. Doch in einer Weltstadt konnte man sein Geld jederzeit für tausend Dinge ausgeben, die man nicht brauchte. Walera hatte Dutzende scheinbar nutzlose Dinge in ihrer Wohnung, die Hesmat nicht kannte. Luxus war, sich Dinge kaufen zu können, die man nicht brauchte, dachte Hesmat. Sein Großvater würde die Hände auf den Kopf schlagen.
»Was lachst du?«, fragte Walera.
»Nichts«, sagte er. »Ich habe nur an meinen Großvater gedacht. Er würde dich hassen.«
Wenn Walera nicht da war, schlief Hesmat oder sah fern. Er wusste nicht, was sie arbeitete. »Meine Dewotschka ist jeden Rubel wert«, sagte Sayyid.
Wenn sie zurückkam, kochte sie Essen oder sie holte etwas bei einem Inder um die Ecke oder sie ließen sich eine Pizza kommen. In einer Weltstadt musste man nie selbst kochen oder das Haus verlassen, um satt zu werden.
Sein Bruder würde ihm kein Wort glauben. Irgendwann würde Hesmat ihm alles erzählen. Ihm erzählen, dass sein Vater
mit keinem Wort übertrieben hatte. Alles war noch unglaublicher, als es ohnehin schon geklungen hatte. Die Stadt war endlos. Vier Stunden war er mit Sayyid durch die Stadt gefahren und hatte doch weder das eine noch das andere Ende gesehen. Zusammen waren sie auf dem Roten Platz gewesen, und er hatte geweint, als er das Hinweisschild zum Grab von Lenin sah. Sayyid machte ein Foto von ihm und versprach, es bald zu entwickeln. Sie fuhren zu einem Supermarkt, der Hesmats Augen übergehen ließ. Er hatte noch nie so volle
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