Hesmats Flucht
herrschte Anarchie und die Taliban waren die Schlimmsten. Das Gerücht hatte sich längst in der halben Stadt herumgesprochen.
»Du musst dich verstecken«, sagte sein Vater schließlich und hatte ihn in das Versteck im Keller gebracht.
Stundenlang hatte er immer und immer wieder die Taschenlampe kurz eingeschaltet. Jedes Mal wenn er erneut auf den Knopf drückte und das Licht erlosch, kehrte mit der Dunkelheit die Angst zurück. Es war kalt. Die Erde, die ihn umgab, saugte die Wärme aus seinem Körper, obwohl es draußen für die Jahreszeit noch warm war.
»Ein paar Tage, vielleicht zwei Wochen, länger wird es nicht dauern«, hatte sein Vater gesagt. So lange musste er es dort unten aushalten.
Meistens kam sein Vater vormittags ins Haus, um seinem Sohn etwas Brot und Wasser in das Versteck zu bringen. Ansonsten versuchte er, draußen zu überleben und ihre Flucht nach Pakistan zu organisieren.
Das Licht blendete ihn, wenn Hesmat aus dem Loch krabbelte und mit seinem Vater ins Haus hinaufging. Sie aßen zusammen und er blieb für ein paar Stunden bei ihm. Dann musste Hesmat wieder zurück in sein Versteck.
»Warum kann ich nicht hier oben auf dich warten?«, hatte er einmal gefragt.
»Du würdest es nicht rechtzeitig in den Keller schaffen, vor allem nicht nachts. Sie werden nicht lange an die Tür klopfen, und bevor du wach bist, haben sie dich.« Eine Diskussion war zwecklos.
»Warum kommst du nicht öfter?«, fragte Hesmat.
»Ich schlafe bei Tuffon. Es ist besser so.«
»Warum kann ich nicht mit?«
»Du weißt, dass das nicht geht, Hesmat. Niemand soll uns zusammen sehen. Wenn sie mich erwischen, werde ich sagen, du seist nicht hier. Ich werde ihnen sagen, dass ich dich weggeschickt habe.«
»Aber wohin?«
»Ich werde sie anlügen«, sagte sein Vater, »und jetzt nimm die zwei Brote und das Wasser, ich muss weg. Es wird diesmal ein wenig länger dauern. Mach dir keine Sorgen.«
Hesmat weinte, als er das Loch wieder von innen verschloss, und hörte, wie sein Vater den Keller verließ.
Er hatte lange gewartet, ehe er das erste Brot gegessen hatte. Er kaute langsam und zählte, wie oft er einen Bissen kaute,
bevor er schluckte. Er hatte geschlafen, hatte wieder Hunger bekommen und musste auf die Toilette. Er wartete. Er konnte nicht schlafen. Wie spät war es? War der Tag vorbei, war es schon Nacht? Nein, er hörte das regelmäßige Brummen von der Straße.
Er überlegte und erledigte sein Geschäft schließlich in einer Ecke des Loches. Mit dem Ende der Taschenlampe kratzte er eine Handvoll Erde von der Mauer und warf sie auf die Exkremente. Die Erde schluckte den Geruch.
Er schlief, wachte auf und aß das zweite Brot. Der Hunger war groß. Wie lange hatte er geschlafen? Das Wasser ging zu Ende. Er bekam Angst. Er dachte an seine Mutter. Er versuchte, nicht zu weinen. Nur die Dunkelheit sah seine Tränen.
Es waren rasche Schritte, dumpfe, fremde Stimmen, die ihn aus dem Schlaf rissen. Er wusste sofort, dass es nicht sein Vater war. Er hörte ein Krachen, ein Scharren. Irgendetwas wurde auf dem Boden herumgeschleift. Er drängte sich in die hinterste Ecke des Lochs und setzte sich in seine verdeckten Exkremente, die er vergessen hatte.
Sein Herz raste. Was sollte er jetzt tun? Er tastete nach dem Hocker. Egal was passieren würde, er würde ihn dem Ersten, der durch die Röhre gekrochen kam, auf den Kopf schlagen. Er zitterte und seine Finger umklammerten das Holz.
Die Stimmen verstummten. Auf was warteten sie? Sein Herz hämmerte gegen seine Brust. Das Klopfen in seinem Kopf war so laut, dass er Angst hatte, die Fremden könnten es hören. Er war wie versteinert. Wer waren diese Unbekannten? Hatten sie nach ihm gesucht? Was wollten sie im Keller und warum hatten sie das Loch nicht gesehen? Warteten sie da draußen, bis er herauskam? Und wo war sein Vater? Er musste sich zwingen, ruhig zu sitzen. Er zählte seine Herzschläge, er hörte in die Dunkelheit hinein, aber die Fremden waren gegangen. Er weinte.
Er kämpfte. Lang hielt er es nicht mehr aus. Die Angst hatte ihm jedes Zeitgefühl geraubt. Er erinnerte sich, wie sich seine verkrampfte Hand irgendwann wieder vom Hocker gelöst hatte und er schlaff zusammensank. Es waren die Kälte und der unerträgliche Durst, die ihn schließlich trotz des Verbots nach oben trieben. Es war mitten in der Nacht und das Haus war ausgestorben. Er erschrak, als er auf Glasscherben trat. Der Mond erhellte die Räume. Alles war verwüstet. Die Fenster hingen
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