Hesmats Flucht
unter den russischen Soldaten gelitten. Ihre Rache war nur eine Frage der Zeit und die Zeiten änderten sich schnell.
Von einem Tag auf den anderen verlor Hesmats Vater seine Arbeit. Die kommunistische Partei wurde abgesetzt, der Präsident ermordet.
Hesmats Vater hatte mit den Kommunisten paktiert, mit dem Feind. Es dauerte nur wenige Wochen, bis vier fremde Männer an die Tür klopften. Sein Vater schickte Hesmat und seinen Bruder in das Zimmer der Mutter. Dort hörte er nur undeutlich, was die Fremden von seinem Vater forderten. Sein Vater sagte ihnen, dass er nichts habe, er die Gerüchte kenne, ihnen aber versichern könnte, dass er nichts damit zu tun habe. Sie gingen wieder.
Am Gesichtsausdruck seines Vaters hatte er erkannt, wie ernst die Sache war. Sein Vater fand keine Arbeit mehr, niemand wollte mehr etwas mit ihm zu tun haben. Schließlich wurde das Geld weniger. Sie besaßen zwar ein großes Haus, trotzdem musste sein Vater so schnell wie möglich an Geld kommen.
Der Bürgerkrieg, der nach dem Abzug der Russen ausgebrochen war, näherte sich Mazar. Wenn das Telefon funktionierte, sprach sein Vater mit Bekannten jenseits der Grenze in Pakistan.
Die einzig gute Nachricht damals war, dass sein Vater wieder einen Weg gefunden hatte, Geld zu verdienen. Er kannte die geheimen Pfade über die Grenze und wusste, was die Menschen in der Stadt brauchten. Er kannte jene, die noch Geld genug besaßen, um sich einen bescheidenen Luxus leisten zu können. Vor allem aber kannte er die Schmuggler in Pakistan.
Er hatte sich Geld geliehen und wollte damit in Pakistan Waren kaufen, sie über die Grenze schmuggeln und in Afghanistan teurer an Apotheken weiterverkaufen.
»Bald haben wir wieder Geld im Haus«, versicherte er. »Niemand von uns hat bisher hungern müssen und das wird auch so bleiben. Habt keine Angst. Ich weiß, auf wen ich mich verlassen kann.«
Hesmat war damals neun Jahre alt. Er würde bald erwachsen sein. Er konnte auf sich aufpassen. Hasip, sein Bruder, war noch zu klein. Er sollte bei Hesmats Großvater bleiben und so übertrug Hesmats Vater ihm entgegen aller Vernunft die Verantwortung für seinen jüngeren Sohn. Sollte ihm etwas passieren, hatte sich Hesmats Großvater um die Erziehung des Kleinen zu kümmern. Der Entschluss schmerzte und Hesmat sah die Verzweiflung im Gesicht seines Vaters. Nie hätte er unter normalen Umständen seinen jüngeren Sohn dem fundamentalistischen Vater anvertraut. Aber was war in dieser verrückten Zeit normal? Auch wenn er nichts vom religiösen Eifer seines Vaters wissen wollte, musste er seine Kinder versorgt wissen, falls er nicht mehr zurückkehren sollte. Hesmat würde das Haus bekommen, er war gebildet und er kannte die Freunde seines Vaters. Er würde Arbeit finden und überleben. Nicht aber ein vierjähriger Junge ohne Mutter und Vater.
Zwei Tage bevor er nach Pakistan ging, teilte er der Familie seinen Entschluss mit. Hesmat sah, wie sehr es ihn schmerzte, seinen eigenen Sohn jenem Menschen zu übergeben, vor dem er als Junge selbst geflüchtet war.
»Warum gehen wir nicht einfach weg?«, fragte Hesmat.
Sein Großvater lachte verächtlich. »Dummes Kind.«
Sein Vater antwortete ihm nach kurzem Schweigen. »Wohin sollen wir gehen? Pakistan? Ich habe nicht genug Geld, außerdem wollen sie uns dort nicht mehr. Sie haben schon mehr als
genug Flüchtlinge. Es gibt dort keine Arbeit. Nichts, wovon wir leben könnten.«
Dann wurden die Gerüchte um seinen Vater immer lauter. »Gold.« Irgendwann war das Wort gefallen und hatte sich rasch verbreitet. Es sei ein richtiger Schatz, den er irgendwo versteckt habe, hieß es. Hesmats Vater kannte die Gerüchte, aber er unterschätzte sie. »Lass sie doch reden«, hatte er immer wieder zu seiner Frau gesagt.
»Aber ich habe den Neid unterschätzt«, gab sein Vater später zu, als die Mutter bereits gestorben war. »Sie haben sich in den Kopf gesetzt, ich sei ein reicher Mann. Niemand will mir glauben, dass es diesen Schatz nicht gibt. Sie glauben, was sie glauben wollen. Die Wahrheit interessiert sie nicht.«
»Aber sie sehen es doch, dass du nicht reich bist«, sagte Hesmat.
»Sie sehen, was sie sehen wollen«, entgegnete sein Vater. »Sie haben Angst, dass ich mit dem Schatz verschwinde, und sie lassen mich nicht mehr aus den Augen. Es gibt kein Gesetz mehr, und je mehr Leute von den Gerüchten hören, desto gefährlicher wird es.«
Es war die Zeit der Rache. Die Zeit, alte Rechnungen zu begleichen. Es
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