Hesmats Flucht
er Hesmat angezischt.
Mit einem Nicken deutete der Polizist auf Hesmat, der sich schlafend stellte.
»Mein Sohn«, sagte Musa. Die Polizisten gingen weiter.
»Siehst du? Alles easy.«
Dann war Hesmat wirklich eingeschlafen. Als er erwachte, war sein Begleiter verschwunden.
»Falls wir getrennt werden, wird jemand am Busbahnhof auf dich warten«, hatte Musa gesagt. »Keine Angst, nur für den Fall. Mach dir keine Sorgen, es ist für alles gesorgt.«
Es war passiert, und Hesmat wurde das Gefühl nicht los, dass das so geplant gewesen war. Der fremde Mann, der sich schließlich neben ihn gesetzt hatte, verzog keine Miene, als er das Schluchzen des Jungen hörte.
Die Armut Weißrusslands zog an den trüben Fenstern des Busses vorüber. Vor den bunten Holzhäusern sah Hesmat die Menschen, die das wenige, was sie besaßen, mit Pferden zu den leeren Märkten karrten. Pferde schienen das einzig Wertvolle in diesem Land zu sein. Wer Geld hatte, saß auf einem Pferderücken, der Rest schlich zu Fuß über die staubigen Straßen.
Ein schönes Land, dachte Hesmat. Immer wieder sah er Seen mit klarem Wasser. Immer wieder rollten sie an Bächen und Flüssen vorbei. Nur die Bäume störten den Blick auf den weiten Horizont. Weißrussland hieß ihn mit schönem Wetter willkommen.
Als der Bus für eine längere Pause stoppte, stiegen sie aus. Niemand stellte Fragen, niemand fiel auf. Wortlos und synchron setzten sich die Menschen in den Schatten des bunten Hauses, vor dem sie gehalten hatten, und ruhten sich aus. Als sich einer der Männer eine Zigarette anzündete, stieß ihn der Fahrer mit den Schuhen gegen das Schienbein. »Sei vorsichtig«, brummte er, »der Wald brennt wie Zunder.«
Einige tranken Bier, die Frauen servierten dazu getrockneten Fisch auf Plastiktellern. Hinter dem Rasthaus sah Hesmat Kinder, die eine Kuh hüteten, während immer wieder Männer mit ihren Pferden an ihnen vorübertrotteten. Er kaute an dem Sandwich, das ihm Musa gekauft und mitgegeben hatte, und blinzelte in die untergehende Sonne. Wo war er? Wie weit war es noch? Was sollte er in der Stadt machen? Er holte Musas Karte aus seinem Rucksack und beschattete Weißrussland mit der Hand. Minsk konnte nicht mehr weit sein. Wer würde ihn dort
erwarten? Er fragte sich, wie sich die Schlepper organisierten. Musa war verschwunden, trotzdem beunruhigte ihn die Tatsache nicht, dass er allein unterwegs war. Die Fahrt war problemlos verlaufen, und wenn alles schiefgehen würde, würde er einfach den nächsten Bus zurück nach Moskau nehmen. Sayyid würde schon dafür sorgen, dass er sein Geld wiederbekam.
Als sie wieder in den Bus stiegen, senkte sich die Sonne im Westen endgültig auf das Land herab, und der Horizont schien zu brennen. Er warf einen letzten Blick auf dieses wunderschöne weite Land. Eine Weite, die ihm keine Angst machte. Im Gegenteil, sein neues Leben lag vor ihm wie die weite Ebene, die nicht enden wollte.
Endstation. Minsk war eine dunkle Stadt. Die Straßen waren schlecht beleuchtet und die Menschen verschmolzen schon nach ein paar Metern mit der Dunkelheit. Die Dörfer, durch die sie gefahren waren, waren so dunkel wie in Afghanistan gewesen, und nur selten erhellte eine einsame Glühbirne einen Fleck weißrussischer Erde. Hinter den Fenstern der Holzhütten flackerten Kerzen. Moskau war eine Weltstadt voll heller Straßen gewesen, hier herrschte Finsternis.
Er hatte Angst vor der Dunkelheit, doch auch Angst vor dem Licht. In der Dunkelheit war er verloren. Im Licht war er eine einfache Beute. Er musste sich verstecken, aber gleichzeitig musste ihn der Unbekannte, der ihn abholen sollte, finden können. Immer wieder sah er die Milizen, die die Stadt durchkämmten. Schritte kamen näher und er wurde nervös. Sein Herz beruhigte sich erst wieder im Takt der sich entfernenden Schritte. Er sah Männeraugen auf sich gerichtet, hörte fremde Stimmen, die über ihn sprachen. Er wusste, dass es Menschenhändler gab, die an den Bahnhöfen auf der Suche nach jungen Männern waren. Von den Versprechungen, die sie machten,
von den Verbrechen, die sie an den Körpern und Seelen der Jungen anrichteten. Er suchte nach einer Telefonzelle, Sayyid musste ihm helfen.
Er hatte den Fremden nicht gehört. Erst als der Mann die Hand auf seine Schulter legte, war er erschrocken. Plötzlich stand er einfach neben ihm. Was wollte dieser Fremde von ihm? Immer wieder griff er mit der Hand nach seiner Schulter, immer wieder entzog sich Hesmat seinem
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