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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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Alles, was die Menschen sahen, waren die verdreckten Spitzen ihrer Sandalen.
    Auf seinen langen Spaziergängen durch die Stadt kam er
vorbei an Ruinen, wich den ausgebrannten und ausgeweideten Panzern aus, blickte auf Fassadenteile und zerschossene Mauerreste. Menschen waren ständig unterwegs in der Stadt, auf der Suche nach Essbarem, nach Arbeit, nach etwas Lebendigem zwischen den Ruinen. Hoffnungslose Wesen in braunen Gewändern, versteckt hinter langen Bärten und noch längeren Gesichtern. Vereinzelt verirrten sich ein paar Frauen als konturlose Wesen zwischen die Männer, ihre Augen und ihre Welt gefangen hinter vergitterten Netzen.
    Jeeps rasten durch die Menge. Ihre bloße Anwesenheit reichte aus, um die Stimmen der ziellos wandernden Massen ersterben zu lassen. Die Gewehre der Taliban, die darin saßen, ließen keine andere Meinung als ihre zu.
    Einmal begegnete er einer Gruppe Flüchtlinge, die nach dem langen Weg zur pakistanischen Grenze erfolglos zurückgekehrt war. Seit die Nachbarländer die Flüchtlinge abwiesen, kamen immer mehr aus der Ausweglosigkeit in die Hoffnungslosigkeit zurück. Dort waren sie nicht willkommen, hier würde sie zumindest niemand verjagen. Sie kehrten zu ihren Häusern zurück, um sich in Ruinen und Steinhöhlen wiederzufinden. Ihre letzte Hoffnung war die Flucht gewesen, ohne Hoffnung kehrten sie zurück. Sie warteten. Auf den nächsten Angriff, auf den nächsten Bissen Brot, auf den Tod, der sich Zeit ließ.
    Im Norden lag der Flughafen, und Hesmat sah ein Flugzeug, das gerade auf die Startbahn hinausrollte, während eine zweite Maschine, wie von Zauberhand geführt, in den Himmel stieg. Es waren stumme, gigantische Vögel, die lautlos in eine bessere Welt schwebten. Erst als es eine lange Schleife zog und Richtung Pakistan abdrehte, erreichte ihn der Lärm der Triebwerke. Er hatte von den Verhandlungen gehört, die die Taliban mit der Regierung dort führten. Sie forderten, das neue Afghanistan anzuerkennen. Wie konnte man nur über so unwichtige
Dinge Gespräche führen, während es den Menschen hier im Land von Tag zu Tag schlechter ging? Aber die Politik war wichtig, das wusste er von seinem Vater.
    Wenn es dunkel wurde, musste er sehen, dass er nach Hause kam. In der Nacht war die Stadt gefährlich und die Taliban billigten niemanden auf den Straßen. Oft war es längst dunkel, wenn er endlich nach Hause kam. Nach Hause, dachte er. Was war das für ein Zuhause? Langsam öffnete er dann die Tür und hörte sofort die Stimme der verrückten Tante. Er legte sich auf seinen Schlafplatz und schloss die Augen, während er hörte, wie seine Tante mit ihren Söhnen stritt.
    Er träumte vom grünen Garten ihres alten Hauses, vom Leben vor dem Krieg, bevor die Männer kamen, die Krankheiten, der Schmutz. Davon, wie hell das Leben sein konnte, wie sauber, wie leicht.
    Jeden Tag betete seine Tante für die Rückkehr ihres Mannes. Doch seit Monaten hatte sie nichts mehr von ihm gehört.
    »Hör auf damit«, sagte Hesmat. »Er ist tot. Tot wie alle.«
    Sie schrie. »Du Teufel, er kämpft! Er kämpft für uns.«
    »Er braucht nicht für mich zu kämpfen«, antwortet Hesmat, »wir sind doch alle schon längst geschlagen.«
    Sie weinte, bis ihre Söhne kamen und die Mutter mitnahmen. Im Stadion, wo einst Buzkashi gespielt worden war, steinigten jetzt die Taliban eine Frau, und alle liefen sie hin, um zuzusehen. Es war schon dunkel, als sie zurückkamen, aufgeregt wie aufgeschreckte Hühner.
    »Das war eine üble Verbrecherin«, sagte sein Cousin, als sie über die Steinigung sprachen.
    »Weißt du eigentlich, was dir passieren würde, wenn die da draußen wüssten, wie gottlos du bist?«, sagte der andere.
    »Niemand hat das Recht, einen anderen umzubringen. Erst recht nicht eine Frau«, sagte Hesmat.

    »Halt’s Maul!«
    Sie waren wie die Schafe, dachte Hesmat. Keines von ihnen dachte, sie liefen alle in eine Richtung, und selbst wenn der Schlachter sie rief, kamen sie blökend angelaufen, um zu sterben.
    Drei Monate waren vergangen, bevor der Streit mit seinen Cousins begann. Sieben Monate, als Hesmat weiteres Geld aus Mazar bekam und sich damit wieder für Monate Ruhe von ihnen erkaufte. Ein Jahr war bereits vergangen, seit sein Vater ermordet worden war, doch es schien Hesmat, als wäre es gestern gewesen. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, bereits ein halbes Leben ohne seine Eltern verbracht zu haben.
    Er war allein. Seine Familie war tot. Es gab keine Zukunft mehr, nur noch das

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