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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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würde, bekam aber keine Antwort.
    »Kopf runter«, sagte der Fremde. »Halt den Mund, sonst sind wir alle dran.«

    Dann war der Kofferraumdeckel mit einem lauten Krachen über ihm zugeschlagen worden. Mit jeder Minute war es heißer geworden, mit jeder Bodenwelle war seine Position schlechter auszuhalten. Nach unzähligen Bodenwellen und Schlägen auf seine Knie waren seine Beine taub. Im Takt der Bodenwellen schaukelte er im Kofferraum hin und her wie ein Stück Holz in den Stromschnellen eines Flusses.
    Er versuchte, sich selbst zu beruhigen. Er hatte schlimmere Dinge überlebt, hatte schlimmere Gefängnisse und Verstecke gesehen. Er musste nur stillhalten, dann würde alles vorbeigehen. Mit jeder Stunde kam er London näher. Solange der Wagen schaukelte und solange er hier lag, kam er seinem Ziel näher. Es konnte nicht mehr weit sein.
    Er erschrak. Vergeblich versuchte er, an seinen Rucksack mit dem Feuerzeug heranzukommen, aber er lag unerreichbar hinter seinem Rücken. »Ich habe die Karte vergessen!«, schoss es ihm durch den Kopf.
    Er musste sie in seiner Angst in dem dunklen Zimmer liegen gelassen haben. Er versuchte, sich die Stationen auf Musas Karte in Erinnerung zu rufen. Immer wieder zählte er die Namen der Städte auf, durch die er kommen würde. Immer wieder fehlte eine Stadt. Immer wieder begann er von Neuem, aber eine Stadt blieb verschwunden. Er musste auf die Toilette, seine Blase schmerzte. Er schrie und klopfte mit dem Ellbogen gegen das Metall. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn und mit jeder Minute wurden die Schmerzen in seinem Unterleib unerträglicher. Sein Klopfen und Schreien nützten nichts, sie erhitzten den engen Kofferraum nur zusätzlich, und die Luft, die er einatmete, wurde dünn. Irgendwann entleerte sich seine Blase. Mit dem warmen Urin kamen auch die Tränen. Er war zu einem Tier geworden, und er schämte sich, als ihm der Urin über seine Beine rann und die neue Hose sich damit vollsaugte.

    Nach Stunden blieb der Wagen endlich stehen.
    »Du Sau!«, schrie der Fremde, als er den Kofferraumdeckel öffnete, und schlug Hesmat ins Gesicht. »Du verdammtes Schwein! Er hat mir den Kofferraum vollgepisst! Schaut euch das an! Na warte, du Schwein!«
    Die Sonne blendete ihn. Er musste mehr als acht oder neun Stunden im Kofferraum gelegen haben.

GEFÄHRLICHE NATUR
    »Da oben«, sagte der Fahrer. »Sie warten auf dich.«
    Er war froh, von den Männern wegzukommen, und lief in die Richtung, die sie ihm angegeben hatten, obwohl er erst niemanden sah. Dann erkannte er zwei Gestalten mit einem Pferd vor sich auf dem Hügel.
    Der Wagen der Männer verschwand mit durchdrehenden Reifen, und als der aufgewirbelte Staub sich gemeinsam mit dem Gestank des verbrannten Treibstoffs verflüchtigte, waren auch die beiden Gestalten verschwunden, die auf ihn warten sollten. Er begann zu laufen und war vollkommen außer Atem, als er sie im Dickicht endlich fand.
    Die Alte hatte sich auf das Moos eines alten Baumes gesetzt und nahm dem Gaul gerade den Futtersack ab, als Hesmat auf allen vieren den Hügel erklomm. Sie reichte ihm Wasser. Er bedankte sich, bekam aber keine Antwort. Als er sich gerade setzen wollte, brach das ungewöhnliche Gespann auf. Sie sprachen wenig, doch wenn, dann gaben die zwei Alten Befehle, sprachen Warnungen aus, während sie wie Wiederkäuer auf den Resten von Grashalmen herumnagten. Befehle an den Gaul, der ihren alten Karren zog, Warnungen an Hesmat.

    »Halt! Pass auf. Lass das, das kannst du nicht essen! Finger weg, ist giftig«, war alles, was sie sagten.
    Ihr Schweigen passte zu der Einsamkeit des Landes. Irgendwann gab er es auf, Fragen zu stellen, auf Antworten zu hoffen. Das Alter und die gemeinsamen Jahre hatten sie stumm gemacht, das alte Paar verstand sich wortlos. Wozu noch reden? Es war alles zwischen den beiden gesagt worden. Er wusste nicht, woher sie kamen, was sie in den Kisten auf dem Karren transportierten und ob er überhaupt richtig bei ihnen war.
    Die Frau führte den Gaul, der Mann trottete wortlos hinter dem Wagen her. Hesmat wunderte sich, warum keiner der beiden auf die Idee kam aufzusteigen, um sich ziehen zu lassen. Er schluckte seine Frage hinunter und folgte ihnen wortlos durch den Wald, über Hügel, vorbei an Seen. Ein wunderschönes Gebiet, von dem er nur wusste, dass es im Süden eines Landes mit dem Namen Weißrussland lag.
    Die Alten folgten einem inneren Weg. Sie zweifelten an keiner Gabelung, und sogar das Pferd schien zu wissen, wohin

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