Hesmats Flucht
Griff. Er wollte weglaufen. Der Fremde hob die Hand, zeigte in die Richtung einer schwach beleuchteten Kreuzung.
»Ich verstehe dich nicht«, sagte Hesmat.
Der Mann dachte nach. »Musa«, sagte er und deutete wieder zu der Kreuzung. »Musa! Davai!« Er tippte sich mit dem Finger auf die Brust. »Musa!«
Sein Leben hing an einem Namen. Am Namen eines Mannes, dem er nicht vertraute. Ein Mann, der ihn im Bus allein gelassen hatte. Der einzige Grund, warum er Hesmat nicht umbringen oder im Stich lassen würde, war das Geld, das auf ihn wartete. Sayyid war gerissen. Er hatte Musa erst ein Drittel der vereinbarten 3500 Dollar für das Schleppen in die Hand gedrückt. Den Rest hatte er in seine Brusttasche gesteckt. »Wenn er sicher angekommen ist und mich anruft, bekommst du den Rest«, hatte er gesagt.
Musa wollte protestieren, aber Sayyid hob stumm den Finger an den Mund. »Überleg dir, mit wem du dich anlegst.«
Musa war sauer.
»Wir machen es auf meine Art«, hatte Sayyid bestimmt. »Ende der Debatte.« Das Geld in Sayyids Brusttasche war Hesmats Lebensversicherung, die ihn beruhigte, als er in den fremden Wagen stieg. Sie würden ihn nicht einfach verschwinden lassen, dazu war er zu wertvoll.
Im Auto stank es wie auf einer Müllkippe. Der Mann roch nach Pisse und der säuerliche Geruch nach ranziger Butter nahm Hesmat fast den Atem. Kopf nach unten, hatte ihm der Fremde angezeigt, dann war er mit ihm zu einem Haus am Stadtrand gefahren. Er bekam getrockneten Fisch, Wasser und schließlich bot ihm der Mann Bier an. Hesmat lehnte ab. Schon beim Gedanken an Alkohol wurde ihm übel.
Spät in der Nacht kamen zwei weitere Männer, die ihm endlich erklären konnten, was passiert war.
»Musa hat Probleme bekommen«, sagten sie. »Er kann nicht kommen. Wir sind jetzt dein Boss«, sagte einer.
Die anderen nickten.
Er schlief keine Minute und hörte den Männern zu, wie sie auf der anderen Seite der Holzwand immer betrunkener wurden. Sein Ohr gewöhnte sich an das Weißrussisch, das kaum anders klang als das Russisch, das er von seiner Mutter und seinem Vater gelernt hatte. Wie hielten es die Männer mit dem Unbekannten aus? Sogar hier im Zimmer stank alles nach ihm. Der Geruch drang selbst durch die Wände. Sie tranken Wodka und ihre Stimmen wurden lauter, einer begann zu singen, die anderen lachten, der Gesang verstummte. Irgendwann dämmerte er hinüber in einen traumlosen Schlaf.
Er erwachte mitten in der Nacht und spürte sofort die Nähe des Fremden. Regungslos stand der Mann neben seinem Bett und starrte ihn an. Hesmat hörte, wie der Fremde sich über die Bartstoppeln strich. Der Schrei aus seinem Mund kam gemeinsam mit der Panik in seinem Kopf, aber die Hand des Fremden erstickte den Hilferuf.
»Verdammt, halt den Mund! Noch ein Wort und ich bring dich um. Ist das klar?«
Hesmat nickte und spürte die feuchte Hand auf seinen trockenen
Lippen. Sein Herz drohte zu zerspringen. War er bis hierher gekommen, nur um all das erleben zu müssen, was die Jungen in den Zelten der Mudschaheddin ertragen mussten? Wurde er jetzt zum Geliebten gemacht, wie Fahid es genannt hatte?
Der Mann nahm die Hand von seinem Mund. »In fünf Minuten komme ich wieder«, sagte er und verschloss die Tür.
Er war gefangen.
Fünf endlose Minuten. Die Gedanken rasten wie sein Herz, seine Knie versagten. Wohin konnte er in diesem Land fliehen? Er wusste nur, dass er in irgendeinem alten Haus bei Minsk war. Hier kannte er niemanden, niemand konnte ihn beschützen. Seine Füße trieben ihn von einer Ecke des dunklen Raums in die andere. Immer wieder stieß er mit den Knien gegen etwas. Ein Tisch, ein Stuhl, ein Schrank. Es gab kein Licht, der Lichtschalter klickte, nichts geschah. Vergeblich zerrte er an der Tür. Die Stimmen waren verschwunden. Wohin waren die Männer gegangen? Dann hörte er das Auto.
Die Fahrt dauerte die ganze Nacht. Immer wieder blieb der Wagen kurz stehen, und mit jeder Bremsung stach ihm etwas, das auch im Kofferraum war, in den Rücken. Die Stimmen, die er hörte, wenn das Auto stand, klangen fremd, nach Befehlen. Es wurde verhandelt, gelacht. Dann schlug jemand mit der Hand auf den Kofferraumdeckel. Die Fahrt ging weiter.
Zwischen dem Rütteln der Straße und dem ächzenden Fahrwerk des alten Wagens hörte er dumpfe Musik aus den Lautsprechern. Der Kofferraum war klein, und er hatte die Knie anziehen müssen, als sie ihn hineingelegt hatten. Er wollte wissen, wohin die Fahrt ging, wie lange sie dauern
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