Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
Vom Netzwerk:
nicht, dass du gehst«, sagte Walera, als sie für seine
Weiterfahrt einkaufen gingen. »Er hat Angst um dich.« Sie steckte ihn in zwei Dutzend verschiedene Jeans. Alle waren blau, alle fühlten sich gleich an, alle passten. Walera stand jedes Mal kopfschüttelnd vor ihm. »Probier die nächste«, sagte sie. »Wenn du uns verlässt, dann in vernünftigen Jeans.«
    Sayyid hatte recht. Sie war ein wenig verrückt.

WIEDER ALLEIN
    Er hätte auf das Gefühl in seinem Bauch hören sollen. Jetzt war es zu spät. Dabei hatte sich sein Inneres schon beim ersten Treffen gegen den Mann gesträubt, den Sayyid ihm vorstellte. Musa war ein Idiot. Doch Hesmat hatte seinen Bauch ignoriert und Sayyid vertraut, der ihn für einen verlässlichen Mann hielt.
    »Ich mag ihn nicht«, hatte er gesagt.
    »Du tust ihm unrecht«, entgegnete Sayyid.
    Sein ganzer Körper sträubte sich dagegen, als er in den Wagen des Schleppers stieg.
    »Nach London, das haben wir in einer Woche erledigt«, sagte Musa. »Wir setzen dich in den Bus und ab geht es.«
    Sayyid klopfte Hesmat aufmunternd auf die Schulter. »Siehst du«, sagte er, »hab ich es doch gesagt.«
    Dann fuhren sie los. Er war wieder allein. So allein wie seit Langem nicht mehr. Die Lippen waren ihm über Nacht vor Nervosität aufgesprungen und er hatte keine Minute geschlafen. Fahid hatte ihn bis zu seinem Tod begleitet, dann waren Sayyid und Walera für ihn da gewesen. Jetzt war er wieder allein mit einem fremden Mann, den er nicht kannte, dem er
nicht vertraute. Er hatte ihm 3500 Dollar für die Flucht nach London bezahlt. 300 Dollar waren ihm geblieben. Nervös und mit zitternden Fingern hatte er die letzten Reste vom Haus seines Vaters in seinen neuen Gürtel eingenäht.
    »300 Dollar reichen«, sagte Musa. »Wenn du drüben bist, kannst du dich ja bei mir bedanken. Alles easy, wirst sehen.«
    Aber gleich zu Beginn gab es Probleme und zwei Tage später saß Hesmat immer noch in der Wohnung des Schleppers. Der Bus, in den Musa ihn gesetzt hatte, war gerade mal bis ans andere Ende der Stadt gefahren, und jetzt saß er in dieser Wohnung fest. Es gab keine Bücher, keinen Fernseher, kein Telefon. Am dritten Tag schlich er sich raus auf die Straße und rief Sayyid an.
    »Bist du vollkommen verblödet?«, knöpfte sich Sayyid Musa vor. »Du holst den Jungen und setzt ihn in dein Dreckloch?«
    »Morgen«, versprach Musa, »es hat Verzögerungen gegeben.«
    Als der Bus über eine Bodenwelle rumpelte, wachte Hesmat auf. Musa war verschwunden. Vorsichtig drehte er sich um. Waren sie schon über der Grenze? Er begegnete Blicken, die Hesmat aus dem Zug kannte. Sie sprachen schnell und leise, trotzdem verstand er bald, dass sie die Grenze schon passiert haben mussten.
    Die Flucht war ein Leben zwischen Lachen und Weinen. Er hasste Musa dafür, dass er ihn im Stich gelassen hatte. Doch er musste lachen, weil Musa recht gehabt hatte. Es war kein Problem gewesen, alles easy. Er hatte nicht einmal bemerkt, wie sie über die Grenze gefahren waren. In ein paar Tagen würde er endlich in London sein. Er überlegte sich die wenigen Worte, die er in Englisch kannte. »My name is Hesmat«, war alles, was ihm einfiel, und »easy«. »Alles ist easy«, hatte Musa gesagt. Musa. Mit dem Namen kam der Zorn zurück.

    Er war mit ihm in den Bus gestiegen und hatte ihm eine Landkarte in die Hand gedrückt. »Zuerst nach Minsk, dann mit dem Auto bis nach Kiew und von dort geht’s über Österreich nach Italien. Dann bist du eh schon auf dem Schiff nach England. In vier Wochen bist du in London.« Hesmat war die Nervosität in Musas Stimme aufgefallen. Er schien selbst vor etwas auf der Flucht zu sein, als sie in den Überlandbus gestiegen waren. Jedes Mal wenn der Bus stehen blieb, Menschen einstiegen, fremde Gerüche kamen und gingen, drehte Musa sich nervös in alle Richtungen. Er schien auf etwas zu warten und ständig wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Fremde Gesichter drängten sich in den Bus, suchten mit versteinerter Miene nach einem Sitzplatz.
    »Nichts da«, sagte Musa, als sich eine Alte neben sie setzen wollte.
    Hesmat hatte den Kopf eingezogen, als er die Polizisten auf dem Gehsteig sah. Seine Hände schwitzten, als die Männer in den Bus gestiegen waren und begannen, die Pässe zu kontrollieren. Mit jedem Blick in einen der aufgeschlagenen Pässe kamen sie eine Reihe näher. Würden sie ihn für 300 Dollar laufen lassen?
    Musa werkte nervös in seiner Tasche herum. »Halt den Mund«, hatte

Weitere Kostenlose Bücher