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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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Warten auf das eigene Ende. Kabul wurde ihm unerträglich. Die Hoffnungslosigkeit in dieser Stadt war allgegenwärtig und schlich sich wie Gift in seinen Körper. Es gab keinen Grund mehr zu leben, das tägliche Sterben war Routine. Der Hunger, die Krankheiten, die Taliban waren die Totengräber.
    Dann kehrte er nach Mazar zurück.
    »Was hätte in Kabul aus mir werden sollen?«, sagte Hesmat jetzt an Sayyid gewandt. »Aber es hat nichts genützt. Zu Hause in Mazar bin ich allen erst recht eine Last gewesen. Und dann bin ich zu Tuffon. Er war der Einzige, der mich verstanden hat, auch wenn er zuerst nichts von einer Flucht hören wollte. Er meinte, es wäre verrückt und ich solle bei meinem Großvater bleiben.«
    »Und warum ist das nicht gegangen?«, fragte Sayyid.
    »Weil er nichts von mir wissen wollte. Er hasst mich wegen meiner Mutter. Sie hat ihm nie gepasst. Sie war eine Frau, die in die Welt hinauswollte, die ihrem Mann nur Flausen
in den Kopf setzte, wie es Großvater genannt hat. Er war gegen ihre Hochzeit, und solange meine Mutter lebte, hat er sie nur schlecht behandelt. Sogar als sie im Sterben lag, hat er sich nicht um sie gekümmert. Er war froh, als sie endlich tot war. ›Jetzt wird wieder alles, wie es einmal war‹, hat er gesagt. Aber Tuffon hat mir das nicht geglaubt. Doch als er selbst mit Großvater geredet hat, hat er gemerkt, dass ich die Wahrheit gesagt habe, und ab da hat er begonnen, mit mir die Flucht zu planen.«
    Seine Familie wollte Hesmat nicht in ihrer Nähe haben, und Tuffon wurde zornig, als er vom Vater seines verstorbenen Freundes hören musste, dass es keine Möglichkeit gäbe, den Jungen zu verstecken, ohne die Familie zu gefährden. Alles, was über die Lippen des Alten kam, klang nach Ausrede.
    Er hatte seit Monaten nichts von den Männern gehört, trotzdem sei es noch viel zu gefährlich, meinte Hesmats Großvater. »Sie warten nur darauf, dich in ihre Finger zu bekommen. Du kannst nicht bei uns bleiben. Warum bist du so dumm und bringst uns in Gefahr? Ich habe dir gesagt, du sollst in Kabul bleiben.«
    Sein Onkel half ihm schließlich, einen sicheren Schlafplatz für ein paar Tage zu finden. Trotzdem musste er alle paar Tage in eine neue Wohnung. Immer wieder mussten sie Freunde finden, auf die sie sich verlassen konnten. Niemand durfte erfahren, dass Hesmat wieder in der Stadt war. Jeder, der wusste, wo er war, und den Jungen nicht auslieferte, brachte sich und seine Familie in Gefahr. Nach ein paar Wochen wurde die Lage immer aussichtsloser. Es gab nicht genug Freunde, denen sie vertrauen konnten. Wenn er schlief, hörte er die fremden Menschen leise flüstern. Sie sprachen über ihn, darüber, warum er ausgerechnet ihr Haus aufsuchen musste. Warum der Junge sich selbst, seine Familie und jetzt auch noch sie, Fremde, in
Gefahr brachte. Es waren die Frauen, die ihre Männer davon überzeugten, dem Jungen zu helfen. Sie mussten sich selbst vor den Taliban in ihren Häusern verstecken, teilten daher sein Leid und hatten Mitleid mit ihm. Manchmal bekam er von ihnen Tee oder eine warme Suppe. Wenn die Männer zurückkamen, verschwand die Freundlichkeit aus ihren Gesichtern, das Mitleid aus den verweinten Augen.
    »Ich weiß bald nicht mehr, bei wem ich dich verstecken soll«, sagte sein Onkel schließlich. »Bist du dir eigentlich im Klaren darüber, welches Risiko diese Leute auf sich nehmen? Ich kann ihnen nichts dafür geben. Ich habe nichts. Es sind Freunde und sie wollen keine Schwierigkeiten bekommen.«
    Niemand wollte Schwierigkeiten wegen Hesmat bekommen. Nicht die Freunde seines Onkels, vor allem aber nicht sein Großvater. »Du musst von hier wieder verschwinden. Du wirst morgen zurück nach Kabul gehen!«, befahl er, und nicht einmal Tuffon konnte ihn davon überzeugen, dass Hesmat auch in Kabul sterben würde.
    »Dann hat mir Tuffon den Plan gegeben«, sagte Hesmat, »und gesagt, dass ich zuerst nach Moskau muss, zu dir. ›Ohne Freunde hast du in Moskau keine Chance‹, hat er gesagt«, erzählte Hesmat und wehrte sich nicht mehr gegen die Umarmung von Sayyid.
    Doch seit Hesmat gehört hatte, dass sein Onkel auf dem Weg nach London war, war er nicht mehr zu halten. Sayyid und Walera hatten es aufgegeben, auf den Jungen einzureden.
    »In London wird alles besser.«
    »Ich kann dich nicht daran hindern«, sagte Sayyid. »In zwei Tagen weiß ich mehr.«
    Seit drei Wochen sprach er immer von diesen zwei Tagen. Immer würde es nur noch zwei Tage dauern.
    »Er will

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