Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
Vom Netzwerk:
sie gingen. Stundenlang schritten sie wortlos neben dem Tier her, blieben gelegentlich kurz stehen, um durchzuatmen und Wasser aus einem kleinen Tank in ihre Flasche zu füllen, anstatt aus den kristallklaren und beißend kalten Bächen.
    »Lass das!«, sagte der Alte, als Hesmat seine Arme in den Bach tauchte und die Hände zu einer Trinkschale formte. Es waren die ersten Worte seit Stunden. Er reichte ihm seine Flasche.
    »Ich habe selbst«, sagte Hesmat.
    Der Alte schüttelte den Kopf und hielt ihm seine Flasche weiter vors Gesicht.
    Am späten Nachmittag setzte Regen ein, der tagelang nicht mehr aufhörte. Binnen Minuten verwandelte sich der weiche
Waldboden in einen Sumpf, und immer wieder rutschte Hesmat auf den Hängen aus, fiel hin und musste sich mit den Händen abstützen, um nicht ganz in den Schlamm einzutauchen. Die Alten kannten jeden Tritt, und ihre dünnen alten Füße setzten sicher und ohne zu zögern Schritt vor Schritt in den Morast, während ihre ausgemergelten Hände dem Gaul halfen, der angestrengt am Wagen zerrte.
    Als sie das Nachtlager aufschlugen, war Hesmat bis zu den Haaren voller Dreck und vollkommen durchnässt. Die Nacht war kalt und das Feuer trocknete seine Kleidung bis zum Morgen nur notdürftig.
    Immer wenn die Wärme gerade in seinen Körper zurückkehrte, setzte der Regen erneut ein. Mal in Form eines kurzen Platzregens, dann wieder als stundenlanger Nieselregen. Sie umgingen Sümpfe, sahen Spuren von Bären und Wölfen im weichen Boden. Die Alte sang, wenn sie einen Bär in ihrer Nähe glaubte, schwieg, wenn Hesmat sprechen wollte. In den ersten drei Tagen verloren sie kaum ein Wort, außer wenn sie ihm sagten, er solle die Finger von den Früchten, den Beeren und dem Wasser lassen. Dann begann der Mann zu reden.
    Sie kamen aus Lel’čycy. »Einem Ort irgendwo da drüben«, sagte er.
    Er verschwendete keine Worte für unnötige Dinge. Sein Russisch war so einfach und klar wie die Bäche, die sie kreuzten. Er wollte wissen, woher Hesmat kam und warum er allein unterwegs war. Hesmat erzählte seine Geschichte in den Worten, die ihm auf Russisch zur Verfügung standen. Es war eine knappe Erzählung, die dem Alten gefiel. Sie waren Bauern und vor dreißig Jahren ganz in den Südosten gezogen, von wo sie schließlich vertrieben worden waren.
    »Nach der Explosion«, sagte der Alte und schaute in den Himmel.
»Bumm, bumm, und sie haben gesagt, nix ist passiert …« Er schüttelte den Kopf. »Dann sind viele gestorben. Es war eine Explosion, irgendwo da drüben jenseits der Grenze.«
    Hesmat wusste, was Explosionen und Bomben anrichten konnten, auch dass Menschen vertrieben wurden. Aber er verstand nicht, was der Alte genau meinte. Immer kam nur dieses Wort, das er nicht kannte.
    »Tschernobyl«, sagte der Alte immer wieder und schüttelte schließlich den Kopf. »Bumm, bumm!«
    Hesmat zuckte nur mit den Schultern. »Ich kenne ihn nicht«, sagte er.
    Tschernobyl war an allem schuld. Daran, dass sie vertrieben wurden, dass die Menschen gestorben waren.
    »Verreckt, elend verreckt«, nannte es der Alte. »Blind und ohne Haare und nur noch Schmerzen.«
    Hesmat kannte die Alten, die der Krieg verrückt gemacht hatte. Vielleicht waren auch die beiden verrückt geworden.
    »Du bist dumm«, sagte der Alte und griff in den Waldboden, packte eine Handvoll frische Erde und hielt sie Hesmat unter die Nase. Er blickte ihn an und schleuderte sie verächtlich zurück in den Wald. »Tot, alles tot«, sagte er. »Nichts essen, nichts trinken, sonst bist du auch tot, alles Tschernobyl.«
    Die Sache wurde immer geheimnisvoller. Er nickte. Der Alte war zufrieden. Er ist verrückt, dachte Hesmat.
    Sie waren nicht allein in dieser Einsamkeit. Wenn es Nacht wurde, sahen sie die anderen Feuer, die Dörfer, die in den Senken lagen und um die sie vorsichtig herumschlichen. Hesmat wusste längst, dass sie Schmuggler waren. Es gab keinen Zweifel. Der Karren, den das Pferd zog, war schwer, manchmal zu schwer für den alten Gaul, der in der Morgenluft dampfte, wenn sie stehen blieben, um dem Pferd ein wenig Erholung zu gönnen. Sie hatten kaum genug Essen für sich selbst dabei,
aber das Pferd musste nicht hungern. Es war das Wertvollste, was sie besaßen.
    Nur zweimal machten sie kein Feuer.
    »Gefährlich«, sagte der Alte, »zu viele Augen.« Er blickte hinaus in die Dunkelheit, wo die Feuer der anderen Schmuggler auf den benachbarten Hügeln flackerten.
    Jeder Einheimische, der hier regelmäßig unbemerkt

Weitere Kostenlose Bücher