Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
Vom Netzwerk:
bekommen. Der Rest, der ihnen entging, war zu verkraften. Probleme machten immer nur Leute wie dieser Junge, die irgendwo Freunde hatten, die Druck ausübten, die einen Teil des Geldes zurückhielten, bis der Schützling in Sicherheit war. Sie erkundigten sich, hörten sich um und wollten ständig wissen, wie die Sache lief. Er konnte auf solche Kunden verzichten.
    Musa würde Probleme bekommen, wenn er sie weiter mit diesen Flüchtlingen nervte. Er schuldete einfach zu vielen Menschen in Moskau einen Gefallen. Auch jetzt hatte Nagib wieder 300 Dollar auslegen müssen, um den Jungen aus dem Gefängnis
zu holen. Musa würde nur mit den Schultern zucken, wenn er ihn nach den 300 Dollar fragte. »Was soll ich tun?«, würde er sagen. »Wenn du ihn nicht rausholst, sehen wir gar nichts von der Kohle.« Nagib beschloss, mit seinem Boss in Kiew über Musa zu reden. So konnte es nicht weitergehen. Wieder hatte er Geld in den Sand gesetzt und den Betrieb unnötig aufgehalten.
    »Immer nur Probleme«, fluchte er.
    Der Junge sah aus, als sei er am Verhungern, trotzdem hatte er nichts gesagt.
    »Komm jetzt«, sagte Nagib, »wir müssen zurück. Wir müssen dich in das Versteck bringen. Hast du Hunger?«
    Hesmat nickte.
    Nagib verfluchte sein Mitleid. Er bewunderte die anderen Männer für ihre Härte. »Wir sind wie Cowboys«, hatte Malek gestern gesagt, »wir treiben sie von Ost nach West und holen uns für den Treck die Kohle ab.« »Du schaust zu viel Western«, hatte der Boss geantwortet und laut gelacht.
    Er wollte auch ein Cowboy sein, die Arbeit gefiel ihm, trotzdem ertappte er sich immer wieder dabei, dass ihm diese Menschen leidtaten.
    Was tat er hier? Warum war er überhaupt hier herausgefahren? Die Natur machte ihn nur sentimental.

EINE GROSSE ÜBERRASCHUNG
    Hesmat konnte die Lieder längst auswendig. Immer die gleiche Kassette, immer der gleiche Singsang. Ihm ging die Musik auf die Nerven, aber das eintönige Gedudel beruhigte die Kleinen.
    Sie hatte es schwer mit ihren drei Kindern. Das Ehepaar saß schon seit einer Woche in dem Zimmer, als Hesmat zu ihnen stieß, und zusammen warteten sie zwei weitere. Es war besser als das Gefängnis. Es war sicher, es war sauber, aber es war eng und sie durften nicht nach draußen. Es war wie Hausarrest, den es von seiner Mutter gesetzt hatte, wenn er etwas wirklich Schlimmes ausgefressen hatte. Es schien ihm wie Hausarrest auf ewig, dabei hatte er nichts angestellt. Die Männer hatten ihnen verboten, die kleine Wohnung zu verlassen. »Draußen ist es viel zu gefährlich«, sagten sie. Nachdem sie lange gebettelt hatten, brachte sie Nagib zweimal kurz vors Haus. Für eine halbe Stunde durften sie dann einzeln mit ihm spazieren gehen. Danach ging es zurück in die Wohnung.
    »Ihr müsst Geduld haben«, sagte der junge Schlepper, »es gibt Probleme, es wird noch dauern. Vielleicht ein paar Tage, vielleicht auch ein paar Wochen.«

    Immer wenn er kam, brachte er ihnen Kartoffeln, aus denen die Frau täglich eine neue köstliche Mahlzeit zauberte. Nach zwei Wochen konnte er trotzdem keine Kartoffeln mehr sehen, egal in welcher Variante. Nie gab es Brot, Fleisch oder Fisch, nie Joghurt, womit sie sich köstliche Saucen hätten zaubern können. Ständig nur Kartoffeln. Zum Frühstück, zum Abendessen.
    Das Essen war so eintönig geworden wie die nutzlosen Tage, die sich endlos in die Länge zogen. Hesmat stritt sich nach der ersten Woche regelmäßig mit den zwei Erwachsenen, deren Kinder ihn nicht in Ruhe ließen. Sie plapperten von der ersten Minute an. Sie wollten wissen, woher er kam, ob er die Wölfe im Wald gesehen habe, ob das Gefängnis wirklich so schlimm war, wie die Erwachsenen erzählten. Die Eltern erkundigten sich nach Neuigkeiten aus Afghanistan.
    Hesmat wusste keine. »Alles beim Alten«, sagte er.
    Seit Monaten hatte er nichts von Afghanistan gehört. In Moskau hatten die Männer am Markt Gerüchte über einen möglichen Gegenangriff der Nordallianz gehört. Was sich wirklich in seiner Heimat abspielte, wusste niemand so genau.
    »Alles beim Alten«, wiederholte er.
    Hunderte Male war er den Raum abgeschritten. Der Raum maß vielleicht fünf mal vier Meter. Ein Fenster zeigte Richtung Süden, direkt auf eine Steinmauer. Den Lauf der Sonne konnten sie nur erahnen, ihre Strahlen reichten nicht über die kalte Mauer hinweg ins Zimmer.
    Die Frau kochte die Kartoffeln auf einer elektrischen Herdplatte und regelmäßig fiel der Strom aus und sie saßen im Dunkeln. Sie

Weitere Kostenlose Bücher