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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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musste Sayyid erreichen, damit der ihm helfen konnte. Er würde Musa Druck machen. Sayyid würde ihn nicht im Stich lassen. Er musste Geduld haben und sich vor den Männern in Acht nehmen. Er zählte die Tage. 26 Knoten zählte der Faden, den er sich aus dem T-Shirt gezogen hatte. 26 Tage, und noch immer hatte ihn niemand telefonieren lassen, noch immer hatte ihn Musa nicht gefunden. »Vielleicht haben sie dich vergessen«, flüsterten die Stimmen. »Vielleicht wollen sie nichts mehr mit dir zu tun haben. Sie sind doch froh, nichts mehr von dir zu hören.«
    »Mord, Diebstahl, Drogen. Russen, Ukrainer, Afghanen. Menschenhändler, Mörder und Flüchtlinge. Wenn jemand ein Bild der Hölle malen will, muss er nur zu uns kommen!« Emal lachte und spuckte auf den Boden. Mit dem Fuß verwischte er das Grünlichgelbe. »Lass uns was gegen das Verhungern tun«, sagte er, und ging Hesmat voraus.
    Er hatte den freundlichen Afghanen erst nach fünf Tagen entdeckt. Emal war Paschtune und wegen Menschenschmuggels im Gefängnis gelandet. Er wartete immer noch auf ein offizielles Urteil. Sie hatten ihn in einem Haus in Kiew geschnappt, wo er gerade zusammen mit 22 Männern und Frauen die Flucht über die grüne Grenze in den Westen vorbereitete. Jemand hatte ihn verraten. Sie hatten ihn ins Gefängnis geworfen und waren gegangen. Seitdem hatte er weder einen Richter noch einen Verteidiger gesehen. Niemand interessierte sich für ihn. Als er nach zwei Monaten endlich einem Vorgesetzten vorgeführt wurde, schlugen sie ihm auf den Kopf, wenn er antworten wollte. Er verstand kein Wort, niemand wollte ihn verstehen. Ein Aufseher hatte seine Stirn in Falten
gelegt und an die Decke geblickt, als stünde das Urteil dort geschrieben. Mit zusammengekniffenen Augen schien er zu überlegen. »Ich schätze, drei Jahre«, sagte er. »Wenn gut, dann drei Jahre. Wenn nicht gut, fünf.«
    »Niemand kann hier fünf Jahre überleben«, sagte Emal zu Hesmat. »In fünf Jahren haben sie dich umgebracht oder du bringst dich selbst um. Du hast keine Chance.«
    Trotzdem war er meist gut gelaunt. Hesmat fragte sich, woher er seine Zuversicht nahm.
    »Mit Geld ist alles kein Problem«, sagte Emal. »Ich warte nur auf meine Freunde. Sie werden dem Richtigen das Geld in die Tasche schieben und dann bin ich frei.«
    »Wie lange wartest du schon?«, fragte Hesmat.
    »Ein Jahr«, sagte Emal und zuckte mit den Schultern. »Es dauert eben, und wie du siehst, leb ich immer noch.«
    Hesmat erwachte jeden Tag mit dem Gebrüll der Gefangenen. Das Gefängnis hallte wie ein riesiger Zoo voller Tiere, die gefüttert werden wollten. Sie rissen und rüttelten an den Gittern, schlugen gegen die Türen und riefen nach den Wachen. In den ersten Tagen hatte das Geschrei Hesmat so sehr erschreckt, dass er sich kaum aus seiner Einzelzelle heraustraute. Mit den Wochen gewöhnte er sich daran ebenso wie an das sinnlose Aufstehen. Gefängnis ist Sinnlosigkeit. Das Aufstehen war so sinnlos wie der restliche Tag und voll lähmender Eintönigkeit. Aufstehen, Frühstück, Wäscherei.
    Einige der Männer verließen das Gefängnis in Ketten, kamen spätabends schwarz von Staub zurück. Das Essen war ein brauner Brei. Wenn Fleisch darin zu finden war, war es Schweinefleisch. Hesmat überlegte nicht, was sein Gott, sein Großvater oder ein anderer Mullah dazu sagen würde. Er aß alles, was sie ihm vorsetzten. Ob Brei oder verbotenes Fleisch, er würde
sogar verdorbenes Fleisch essen. - Dann bekam er verdorbenes Fleisch und übergab sich zwei Tage lang.
    Der Speisesaal, in dem er nur das Schmatzen der Männer und das Klatschen der vollen Kelle auf den Tellern hörte, starrte vor Schmutz. Wenn sie aßen, waren sie ruhig. Zwei Minuten Ruhe, Schmatzen und Klatschen, bevor die Hölle und der Streit um die Portion des Nachbarn losbrach. Nur wer Hunger leidet, versteht, was man alles essen kann. Niemand mit einem vollen Bauch sollte darüber urteilen, was man essen darf. Allah hat immer einen vollen Bauch, dachte Hesmat und schlang den Brei, das Fleisch, alles Nahrhafte in der schmutzigen Schüssel hinunter.
    Das tägliche Schwarzbrot, das er von Emal zusätzlich bekam, der sich in der Küche nützlich machte und immer ein wenig Brot mitgehen ließ, hielt ihn am Leben. Vorsichtig brach er das Brot, teilte sich die Rationen über den Tag ein und kaute die Schwarzbrotportionen, die er sich in die Hose geschoben hatte.
    Und es war wie im Himmel, wenn Leonid Dienst hatte. Er war der Riese unter den

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