Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
Vom Netzwerk:
spielte mit den Kindern, erzählte ihnen Geschichten und versprach ihnen die schönsten Geschenke, wenn sie endlich in Wien wären.

    »Wien?«
    »Du kennst die Stadt nicht?«, fragten sie verwundert.
    »Autriche«, sagten die Kinder und hoben ihre kleinen Hände in Richtung Fenster. »Ist gar nicht weit von hier. Unser Onkel lebt dort. Er wartet auf uns.«
    Er hörte der Frau zu, wie sie ihre Geschichten erzählte. Sie hatte eine angenehme Stimme und Übung im Erzählen. Es waren gute Geschichten. Geschichten von Träumen, vom Leben in Afghanistan, von den großen Kämpfen tapferer Männer. Geschichten aus der weiten Welt, von Ländern, deren Namen er noch nie gehört hatte.
    Die Kinder strahlten. Sie spielten Murmelspiele und lachten, wenn ihr Vater schnarchte. Sie langweilten sich, wenn es keine Geschichten gab; sie weinten, wenn ihnen ihr Vater sagen musste, dass sie nicht aus dem Zimmer gehen durften. Sie stanken, wenn sie auf die Toilette mussten, und sie waren am lautesten, wenn die Erwachsenen schlafen wollten.
    Immer wieder kam Nagib oder einer der anderen Schlepper, zerrte einen Sack Kartoffeln in die Wohnung, gab ihnen zu verstehen, dass es noch mindestens einen weiteren Sack dauern würde, blickte sich kurz um und warnte sie davor, die Wohnung zu verlassen. Sie mussten leise sein. Die Nachbarn dürften keinen Verdacht schöpfen, hieß es immer wieder. »Es ist alles aus, wenn sie euch verraten. Ihr müsst zurück oder kommt ins Gefängnis. Ihr werdet eure Kinder nie wiedersehen. Sie nehmen sie euch weg und stecken sie in Waisenhäuser. Also seid ruhig.«
    Nach drei Wochen hasste Hesmat jeden Zentimeter des Raums, jede Ritze an der Wand, die schmutzige rote Tapete. Er hasste den abgeschlagenen Lampenschirm, die angeschlagenen Teller, jedes Geräusch, das die Kinder machten. Er hasste sogar ihre Geschichten. Er hasste die Ruhe in der Nacht und
das Atmen der anderen, wenn sie schliefen. Tagelang saß er regungslos auf einem Stuhl, den er gegen das einzig freie Eck im Raum gerichtet hatte, und starrte auf die Tapete. Das Muster verschwamm vor seinen Augen und setzte sich ständig zu neuen Formen zusammen. Er hielt sich die Ohren zu, um die Stimmen der Kinder nicht mehr zu hören, und konnte den Hass in seinem Kopf trotzdem nicht abstellen.
    Wie immer hatte Nagib die Tür von außen verschlossen und war gegangen. Hesmat fühlte sich wie ein Gefangener. Er hasste den Kassettenrekorder, die Lieder, die sich ständig wiederholten, den Gestank der Füße der anderen, den er nicht aus der Nase bekam. Unzählige Male stand er auf und ging an die Tür, riss an der Klinke und schlug mit der Hand gegen das Holz. Jedes Mal fiel ihm der Mann in den Arm und riss ihn zurück. »Willst du uns alle verraten?«, fuhr er ihn an.
    Wie hielten die Kinder das nur aus?, fragte sich Hesmat immer wieder. Wie konnten sie das nur aushalten?
    Am nächsten Tag kam Nagib. Es war das zweite Mal, dass Hesmat zusammen mit ihm für eine halbe Stunde aus der Wohnung durfte. Als sie wieder die Treppe hoch in die Wohnung nahmen, fühlte er sich, als ob er in das tiefste Verlies steigen müsste.
    »Wann geht es endlich weiter?«, schrie er.
    Der Schlepper war überrascht. »Sag mir nicht, wie ich meinen Job zu erledigen habe!«, schrie er zurück. »Und wenn du noch lange herumschreist, werf ich dich auf die Straße.« Seine Augen funkelten. Er holte aus und schlug Hesmat ins Gesicht. »Mir ist es egal, wer du bist. Reiß dich zusammen oder ich lass dich vor die Hunde gehen.« Dann fügte er etwas ruhiger hinzu: »Vielleicht in einer Woche, es dauert noch.« Er schob Hesmat zurück in das Zimmer.
    Als er hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte, wusste
er, dass jemand in diesem Raum sterben würde, wenn sie nicht bald von hier wegkamen.
    Am nächsten Tag hatte Nagib ein kleines Radio gebracht.
    Er spinnt, dachte Hesmat. Was sollen wir mit noch mehr Musik?
    Es waren die ersten Nachrichten, die sie seit Monaten hörten. Es war, als säßen sie irgendwo in Afghanistan. Im Radio sprach eine Stimme ihre Sprache. Es waren Nachrichten aus Afghanistan, Berichte von der Front. Es war, als spräche jemand ihnen aus dem Herzen.
    »Ein Weltempfänger«, stellte der Mann fest.
    Hesmat verstand nicht, was er meinte.
    »Das ist BBC Paschtun. Die sitzen in London«, sagte er. »Sie senden für alle Afghanen, die nicht mehr zu Hause leben.«
    London! Hesmat liebte den Klang dieses Wortes. Und sie machten sogar Nachrichten für Paschtunen! London musste

Weitere Kostenlose Bücher