Hesmats Flucht
Aufsehern, und seine bloße Anwesenheit reichte aus, um selbst die schweren Jungs ruhigzustellen. Nur an besonders schlimmen Tagen hatten sie den Mut, sich mit dem Riesen anzulegen. Zweimal hatte Hesmat gesehen, wie ein Gefangener nach dem Essen auf ihn losging. Zweimal hatte er gesehen, wie der Wärter seine mächtige Faust auf den Schädel des Angreifers schlug und Blut aus dem Mund des Unterlegenen spritzte. Hesmat war sich beide Male sicher, dass der Mann tot war. Beide Male hatte er sich getäuscht.
»Der Mensch ist widerstandsfähiger, als man glaubt«, sagte Emal, »der hält sogar die Faust von Leonid aus.« Emal grinste.
Leonid war unumstritten. Sie fürchteten seine Faust, seinen Blick, jedes seiner Worte. Hesmat liebte ihn. Leonid sprach
nicht viel, aber was er sagte, war Gesetz. Als er hörte, dass Hesmat etwas Russisch sprach, begann er, ihn auszufragen. Hesmat genoss die Aufmerksamkeit eines so mächtigen Mannes.
»Stell dich gut mit ihm«, sagte Emal. »Er kann wichtig für dich sein. Außerdem schützt er dich vor den Männern.«
Manchmal schenkte Leonid ihm ein Stück Schokolade. Es schmeckte wie die ersehnte Freiheit.
Der Kommandant hatte von sechs Monaten gesprochen. Den ersten hatte Hesmat in der Hölle überlebt, fünf weitere schienen ihm wie ein ganzes Leben voller Schmerzen. Der Gedanke daran tat ihm so weh, dass er schreien wollte. Er glaubte schon jetzt, nach vier Wochen, durchzudrehen. Hoffnungslosigkeit und Angst waren übermächtig.
Hesmat hatte die Wachen wochenlang angefleht. Immer wieder hatte er sie um ein Gespräch nach Moskau gebeten. Wochenlang hatten sie nur den Kopf geschüttelt. »Lass uns in Ruhe, was geht uns Moskau an?«
Jeden Tag dieselbe Frage, jeden Tag dasselbe Nein. Nach ein paar Tagen schüttelten sie nur noch den Kopf. Jeden Tag wurde er mutloser. Das Essen, das ihm nie geschmeckt hatte, verlor den letzten Reiz. Er verlor die Lust, den Fraß, den sie ihnen vorsetzen, in sich hineinzulöffeln.
»Du musst essen«, sagte Emal. »Du darfst nicht aufgeben. Frag weiter. Du bist ein Kind. Wenn wir es tun, wird er uns schlagen. Dir wird er nichts tun, du darfst nicht aufgeben.«
Als Hesmat 48 Knoten in seinem Faden zählte, wich die Wache plötzlich zur Seite. »Ein Gespräch«, sagte der Beamte und hob den Zeigefinger, »aber mach schnell.«
Es wurden zwei. Sayyid war nicht zu Hause, dafür erreichte er Musa.
»Was? Alles kein Problem?«, schrie Hesmat in den Hörer.
»Ich kann dein beschissenes ›Kein Problem‹ nicht mehr hören. Ich sitze hier im Gefängnis, nicht du!« Hesmat spürte, wie Musa irgendwo am Telefon in Moskau mit den Schultern zuckte.
»Ich werde mich darum kümmern«, sagte er, »bleib ruhig. Ich werde dich da rausholen. Ich schicke Nagib.« Dann legte er auf.
Jeden Abend dachte er an seine Eltern, an zu Hause. Er betete für seinen Onkel, der auch auf der Flucht war, und hoffte, ihn in London wiederzusehen.
Nie war er sich sicher, was der nächste Tag bringen würde. Würde er morgen wieder Brot bekommen? Hatte Leonid Dienst? Würde er ihm ein Stück Schokolade schenken? Würden die Männer hungrig sein oder bekämen sie genug zu essen und wäre es damit ruhig? Mit dem Hunger stieg die Aggression der Gefangenen, und jeder, der in eine Schlägerei im Gang oder im Speisesaal geriet, war in Lebensgefahr. Wenn die Männer von den Stöcken, den Gewehren und den Elektroschockern der Aufseher auseinandergetrieben wurden, gab es immer einen, der nicht wieder aufstand. Und jedes Mal war es Hesmat, der das Blut, den Speichel, ausgeschlagene Zähne und ausgebissene Fleischfetzen aufwischen musste.
Hesmat musste weitere 17 Knoten in seinen Faden machen, bevor er von Musas Kontaktmann Nagib hörte. Nagib war selbst praktisch noch ein Junge. Hesmat schätzte ihn auf vierzehn, höchstens fünfzehn Jahre. Nagib hatte einen afghanischen Namen, seine Gesichtszüge waren jedoch eindeutig russisch. Einer der Aufseher hatte Hesmat gerufen und ihn zu dem Jungen gebracht. Zuerst dachte Hesmat, er solle übersetzen. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihn holten, um afghanische Flüchtlinge zu befragen. Aber der fremde Junge schickte die Männer in perfektem Russisch aus dem Raum. Er benahm
sich wie ein Erwachsener, obwohl er zwei Köpfe kleiner war als die Wachen.
»Geld ist Macht«, sagte er, als die Männer die Tür hinter sich geschlossen hatten.
Hesmat wurde unsicher. Erst als ihm Nagib die Hand reichte und seinen Namen nannte, verflogen die
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