Hesmats Flucht
eine gute Stadt sein. Wenn sie sogar ein eigenes Nachrichtenprogramm für sein Volk machten, dann war er dort sicher willkommen.
Hesmat hatte keine Ahnung, dass die Radionachrichten weltweit ausgestrahlt wurden und weniger mit der Gastfreundlichkeit einer Stadt oder gar eines ganzen Staates zu tun hatten als vielmehr mit dem Service der BBC. Deshalb machten ihm diese Nachrichten Mut. Sie waren das erste Zeichen aus einem Land, das er sich als neue Heimat auserkoren hatte.
Immer wieder hörten sie die Nachrichten in ihrer Sprache. Dann spielte wieder Musik. Es war wie im Traum.
Doch als sie zwei Tage später wieder Nachrichten hörten, traf sie eine Meldung aus heiterem Himmel. Wortlos und geschockt saßen sie vor dem kleinen Radio, starrten sich erschrocken an.
Der Mann schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein«, sagte er endlich, »sie lügen.«
»Sie sind wie die Taliban«, sagte die Frau. »Sie lügen doch alle. Warum tun sie das?«
»Sie wollen uns nur Angst machen«, sagte der Mann wieder. »Das Radio ist wie eine Waffe. Sie wollen unseren Willen brechen.«
»Ich hasse sie«, sagte die Frau. »Warum hören sie nicht damit auf?«
Aber die Stimme im Radio wollte nicht schweigen und erzählte immer wieder neue Details.
»Er ist nicht tot«, sagte Hesmat. »Sie lügen. Sie würden ihn nie kriegen, sie lügen!«
Die Kinder waren still, sie sahen das Entsetzen in den Augen der Erwachsenen. Etwas Furchtbares musste passiert sein.
Dann drehte der Mann das Radio ab.
Die Stille war schlimmer als die Nachrichten. Erst jetzt setzten die Worte sich in ihren Köpfen zu einem Bild zusammen. Sie hatten ihn getötet! Sie hatten den Löwen von Pandschir umgebracht. Massoud, der Anführer der Nordallianz, war tot. Der Held seiner Eltern, der Held aller Afghanen, sollte tot sein. In einem Hinterhalt erschossen. Von feigen Terroristen, die sich als Reporter verkleidet hatten. Er war der, der Afghanistan befreien sollte. Er war der Held aller Afghanen, unbesiegbar. Der, auf den sie alle ihre Hoffnungen gesetzt hatten. Er konnte nicht tot sein. Allah würde es nicht zulassen. Mit ihm würde Afghanistan sterben. Wenn es stimmte, was die Stimme im Radio erzählt hatte, war seine Heimat endgültig verloren. Mit Massoud wäre auch Afghanistan ermordet worden. Sie glaubten der Stimme im Radio kein Wort, trotzdem weinten sie. Sie fühlten, dass es doch die Wahrheit war. Nach ein paar Stunden schalteten sie das Radio wieder ein. Die Nachricht war immer
noch dieselbe. Das Radio lief die ganze Nacht. Immer wieder hörten sie dieselben Worte: Massoud war tot.
Zwei Tage später stand Nagib plötzlich um vier Uhr früh vor ihnen. »Packt alles zusammen«, befahl er, »es geht weiter.«
Hesmat griff mit einer Hand nach allem, was er noch besaß. Er brauchte nicht zu packen. Sein Rucksack war sein Kopfkissen gewesen, jetzt stopfte er sein zweites T-Shirt, das die Frau gewaschen hatte, und die zweite Unterhose hinein. Er hob den Weltempfänger in die Höhe und sah Nagib fragend an.
»Nimm ihn mit«, sagte er, »ihr werdet ihn brauchen.«
Hesmat war für einen Moment überrascht und schob das Radio in den Rucksack.
»Verdammt, macht schnell«, schimpften Nagib und Hesmat die Familie, »wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«
Schließlich halfen sie dem Vater, drei große Plastiktaschen hinunter zum Wagen zu schleppen, der auf sie wartete.
Als Nagib die Tür hinter ihnen zudrosch, glaubte Hesmat, die Freiheit zu riechen. Er lachte. Es ging los. Endlich. London! Er würde BBC Paschtun besuchen und ihnen von seiner Reise erzählen. Sie würden sich freuen, wenn sie hörten, dass sie für ihn in diesem Versteck das einzige Zeichen der Welt draußen gewesen waren. Sie würden lange Gesichter machen. Er lachte in sich hinein.
Die Reifen gruben sich in den Kies und der Wagen beschleunigte auf der Hauptstraße.
»Wohin bringt ihr uns?«, fragte der Mann, der kaum Luft bekam. Die Kinder saßen auf ihm, die Frau hatte sich noch neben ihn zwängen müssen. Zu sechst saßen und lagen sie übereinander auf der Rückbank.
»Seid still«, schimpfte der Fahrer, »ihr werdet schon sehen.«
Hesmats Freude über die Abreise hielt nicht lange an. Die
erhoffte Freiheit endete schon eine halbe Stunde später vor einem einzelnen Haus am Stadtrand.
»Aussteigen!«, befahl Nagib. »Wir sind da.«
Niemand stellte eine Frage, sie folgten wortlos. Sie waren derart überrumpelt, dass sie sich ohne Protest aus dem Auto schälten und ihre Sachen aus dem
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