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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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Zweifel.
    »Wir haben nicht viel Zeit«, erklärte Nagib. »Es wird noch ein paar Tage dauern. Hab Geduld, ich muss noch einiges abklären, aber ich hol dich hier raus.«
    »Was heißt, noch ein paar Tage?«, fragte Hesmat.
    Nagib ließ sich von seiner Ungeduld nicht beeindrucken. »Halte durch«, sagte er, »und geh jetzt wieder zurück. Ich kümmere mich um alles.«
    Diese Worte aus dem Mund eines Jungen klangen lächerlich. Alles war bei diesen Leuten immer einfach und unkompliziert. Das ganze Leben schien nur ein Spiel zu sein und nichts würde passieren. Hesmat hasste diese Optimisten, die nie Probleme sahen. Wieder wäre »alles easy«, nur waren die Männer, die davon sprachen, stets auf jener Seite der Gitter, auf der sich leicht große Töne spucken ließen. Hier war nichts einfach, und als Nagib ging, hasste ihn Hesmat dafür.
    Hesmat hatte die Schuhe ausgezogen und spreizte die schmutzigen Zehen im feuchten Gras. Bei jedem Schritt lief ihm ein neuer Schauer über die Haut. Er hatte das Gefühl, die Welt neu zu entdecken. Wie mussten sich erst die Menschen fühlen, die jahrelang im Gefängnis gesessen hatten? Er war neun Wochen im Gefängnis gewesen und hatte schon fast vergessen, wie sich die Welt anfühlte. Mit jedem Schritt im feuchten Gras spürte er das Leben in sich zurückkehren. Frische Luft bedeutete Freiheit und Leben. Die Sonne goss ihre Wärme großzügig über ihn aus, während Nagib wortlos neben ihm herging. Es war
die Idee des Schleppers gewesen, vom Gefängnis direkt hierherzufahren. Kiew war am Autofenster vorbeigeflogen, und bevor er sich bewusst wurde, wo er war, hatten sie die Stadt schon wieder verlassen. Sie fuhren noch eine halbe Stunde weiter und parkten den Wagen neben einer Wiese.
    »Wie alt bist du?«, fragte Hesmat ihn.
    »Einundzwanzig.« Nagib lachte. Er wusste, dass ihn die Menschen jünger schätzten. Aus dem Augenwinkel sah er Hesmats ungläubigen Blick.
    Der Junge aus Afghanistan stank wie alle Menschen, die Nagib in seinem Job traf. Gestank war ein ständiger Begleiter der Flüchtlinge. Spätestens in der Ukraine hatten sie ihre Würde verloren und waren zu stinkenden Tieren geworden, die jedes Gefühl von Anstand, Scham und Sauberkeit verloren hatten. Sie befolgten seine Befehle, ließen sich treiben wie eine Herde Ziegen. Die lange Flucht hatte die Menschen längst mürbe gemacht. Nur selten war einer darunter, der Streit suchte und ihn für Probleme verantwortlich machte. Dann musste er sich Respekt verschaffen. Wenn nichts mehr half, spielte er mit der Pistole, die er am Gürtel unter dem weiten Pullover trug. Meistens reichte es aber, sie anzubrüllen, sie zu hetzen, eine der Frauen an den Haaren zu reißen, um sie gefügig zu machen. Die Männer hatten ihm alle Tricks gezeigt.
    Flüchtlinge waren keine Menschen. Man handelte mit ihnen wie mit Schafen auf dem Markt. Sie waren eine Ware, und je länger sie stillstanden, desto kostspieliger wurde die Geschichte. Sie nahmen sie entgegen, sortierten sie und versuchten, sie so schnell wie möglich weiterzubringen in den Westen. Sie wollten Essen, brauchten Wasser, Kleidung, Windeln. Das alles kostete Geld. Je länger sie zwischengelagert wurden, desto weniger blieb am Ende für die Schlepper übrig.

    In den letzten Wochen hatte er schon zweimal Ärger gehabt und der Weitertransport hatte nicht so funktioniert wie geplant. Die letzte Gruppe war überhaupt ganze drei Wochen länger im Haus gesessen als ausgemacht. Das verursachte gewaltige Mehrkosten. Jetzt hieß es, den Verlust auszugleichen.
    Aber es gab schon wieder neue Probleme. An der Grenze zu Polen hatte es einige Tote gegeben. Und seit Kurzem konzentrierten sich die Beamten vermehrt auf die grüne Grenze zu Ungarn. Auch dieser Afghane würde wieder länger hier sitzen, als es ihnen recht war. Er wollte zu essen, er stellte Fragen, er wollte weiter. Was war so Besonderes an diesem Jungen, dass sich Musa persönlich um ihn gekümmert hatte?
    Er hat sich sicher wieder über den Tisch ziehen lassen, dachte Nagib und spie aus. Der Idiot hielt sich nie an die Spielregeln, er legte sich in Moskau immer mit den falschen Leuten an. Immer diese Sonderbehandlungen. Was kümmerte ihn der Junge. Er hatte andere Probleme zu lösen.
    Am einfachsten war es mit den Flüchtlingen, die niemanden hatten. Sie zahlten für die Reise, und wenn etwas schiefging, gab es keine Probleme; niemanden, der nachfragte. Wenn sie einen verloren, hatten sie zumindest den Großteil des Geldes schon

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