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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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offenem Mund, als er hörte, wie leicht es sein Onkel bis hierher gehabt hatte. Karim hatte sich erst vor drei Wochen auf dem Schwarzmarkt in Mazar gültige Papiere
besorgt, war über den Iran ausgereist und schließlich nach Russland gekommen. Nach nur drei Wochen hatte er es so weit geschafft wie Hesmat in sechs Monaten. Er hatte bisher keine Probleme gehabt. Bei den Kontrollen hatte er seinen Pass und die gefälschten Papiere vorgezeigt oder musste schlimmstenfalls ein paar Polizisten schmieren.
    Hesmat fühlte sich verraten und dieser Verrat überstrahlte die Freude über das Wiedersehen. Warum war sein Onkel nicht zusammen mit ihm geflüchtet? Warum hatte er ihn nicht so lange bei sich versteckt, bis er seine Vorbereitungen getroffen hatte und seinen Neffen mitnehmen konnte? Warum hatte er ihn alleine auf die Reise geschickt und nie ein Wort über seine geplante Flucht verloren? Instinktiv rückte er von seinem Onkel ab. Vertraue niemandem! Die Tränen kehrten zurück. Die Frage kreiste in seinem Kopf, sein ganzer Körper zitterte. Warum hatte er nichts gesagt?
    »Ach mein Kleiner«, sagte sein Onkel schließlich, um die entstandene Stille zu durchbrechen. »Schau dich an, du bist noch dünner geworden. Was musstest du nur ertragen?«
    »Warum …?«, brachte Hesmat schließlich heraus, verschluckte aber den Rest der Frage. »Wenn du etwas nicht ändern kannst, hältst du besser den Mund«, hatte sein Vater gesagt. Er hatte recht. Es hatte keinen Sinn, seinen Onkel nach dem Warum zu fragen. Er hatte seine Gründe gehabt und vielleicht sagte er ja die Wahrheit. Vielleicht war das Leben für ihn tatsächlich erst später, von einem Tag auf den anderen, plötzlich so unmöglich geworden, wie er erzählt hatte. Vielleicht log er ihn auch einfach nur an, um ihm die Wiedersehensfreude nicht zu verderben. Vielleicht musste er fliehen, so wie auch ihm selbst keine andere Wahl geblieben war.
    »Wie geht es meinem Bruder?«, fragte er schließlich.
    »Gut«, sagte sein Onkel. »Dein Großvater kümmert sich gut
um ihn. Er geht jetzt in die Koranschule. Dein Großvater ist sehr zufrieden mit ihm.«
    Eine Tante war vor Kurzem gestorben, weil ihr niemand das Geschwür im Bauch operieren wollte. »Das Krankenhaus ist für Frauen geschlossen worden«, sagte sein Onkel. Sie hatten zwei Tage lang gesucht, bis sie eine ehemalige Ärztin gefunden hatten, die sich verbotenerweise bei ihr zu Hause um weibliche Patienten kümmerte. Als sie seine kranke Schwester endlich in ihrem Haus hatten, war es zu spät. Sie war auf der Fahrt verstorben. »Es hat sich nichts geändert.«
    Obwohl er müde war, dauerte es lange, bis Hesmat in dieser Nacht endlich einschlief. Immer wieder hatte er die Augen aufgemacht und zu seinem Onkel geschaut, der neben ihm lag. Es war, als wolle er sich davon überzeugen, nicht zu träumen. Aber er lag tatsächlich nur eine Handbreit neben seinem Kopf und hatte die Augen geschlossen. Er sah Fahid vor sich. Du bist ein verdammtes Glücksschwein, würde er sagen und lachen. Wie schön wäre es, wenn er jetzt hier bei ihnen wäre. Sie wären zu dritt und alles wäre perfekt.
    In dieser Nacht lag irgendwo in einem alten Haus am Stadtrand von Kiew ein afghanischer Junge und fühlte sich zum ersten Mal seit Monaten zu Hause. Zu Hause in einem fremden Land, inmitten von Flüchtlingen, die er nicht kannte, inmitten von Männern, die von einem besseren Leben träumten. Seine Träume waren hier und jetzt in Erfüllung gegangen. Er war nicht mehr allein, und egal was kommen würde, zusammen mit seinem Onkel würde alles gut werden. Noch einmal öffnete er die Augen, um seinen schlafenden Onkel anzusehen. »Lass es keinen Traum sein«, sagte er leise und schlief endlich auch ein.

    Karim hatte nur wenig Zeit für seine Planungen gehabt. Er hatte seine Freunde in London angerufen, hatte verkauft, wofür es noch Geld gab, und verschwand so schnell wie sein Neffe, der vor über einem halben Jahr geflohen war. Er hatte um seinen Neffen geweint, der irgendwo allein versuchte zu überleben. Er hatte sich selbst verflucht, so wie er seine Heimat verflucht hatte. Ein paar Wochen nachdem sein Neffe geflüchtet war, hielt er es nicht mehr aus. Er sprach Englisch, Russisch und war ein fleißiger Arbeiter. Egal wozu man ihn anstellte, er konnte jede Arbeit erledigen. Immer wieder hatten ihn die Menschen dafür bewundert. »Egal, was man braucht«, sagten sie, »du kannst einfach alles.«
    Aber nichts war gut genug, nichts würde ihn

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