Hesmats Flucht
und er schöpfte neue Hoffnung, als jemand Hesmat lebend in Duschanbe gesehen haben wollte. Dann verlor er jede Hoffnung, nachdem er wochenlang nichts mehr von ihm gehört hatte. Er überquerte die Grenze zum Iran und war nach wenigen Stunden London näher als Hesmat nach Monaten. Als er den Jungen plötzlich
im Raum hatte stehen sehen, wusste er, dass ihm sein toter Bruder verziehen hatte.
Hier waren sie weit weg von Mazar. Weit weg von all dem Clandenken, das Hesmats Mutter so viel Leid eingebracht hatte. Weit weg vom Großvater, der über alle herrschte. Er wusste, wie schlecht die Familie und auch er selbst Hesmats Mutter behandelt hatten, wie sie Hesmat nach dem Tod seiner Eltern im Stich gelassen hatten, weil sie Angst hatten, selbst zur Zielscheibe dieser Gerüchte zu werden. Es war einfacher, einen ungeliebten Enkelsohn zu vertreiben, als sich der brutalen Wahrheit zu stellen. Sich vor den Jungen zu stellen und ihn zu schützen. Alle hatten sie versagt, auch er selbst. Doch jetzt hatte er eine neue Chance bekommen, und er nahm sich vor, alles besser zu machen. Er wusste, er konnte die Vergangenheit nicht mehr ändern, aber die Zukunft lag vor ihnen.
ENDLOSES WARTEN
Hesmat konnte seine Füße nicht mehr stillhalten. Seit über drei Wochen saß er jetzt in diesen Räumen herum. Zuerst in einem Zimmer gemeinsam mit der Familie mit den drei Kindern, jetzt wieder in einem Raum mit vierzehn anderen Männern. Sie kamen aus Afghanistan, Usbekistan, dem Iran. Sogar zwei Schwarzafrikaner hatten sich nach Kiew verirrt und warteten auf die Weiterreise in den Westen. Im Zimmer nebenan warteten noch einmal etwa genauso viele Frauen und Kinder. Sie saßen im dritten Stock dieses Hauses wie in einem Bootsrumpf fest und warteten darauf, dass ihr Schiff auslief.
Das Schlimmste war das ständige Schweigen. Sie durften sich nur leise unterhalten und trotzdem hatten die Nachbarn Verdacht geschöpft. Sie hatten die Polizei gerufen, und die Schlepper mussten all ihre Überredungskünste und ein dickes Bündel Bargeld einsetzen, um sie zum Schweigen zu bringen. Als die Polizisten gegangen waren, bekamen die Flüchtlinge den Zorn der Menschenschmuggler zu spüren. Sie schlugen den ersten, der ihnen zwischen die Finger kam, und drohten den anderen mit den Waffen, die sie in ihren Gürteln stecken hatten. Zweimal waren sie mitten in der Nacht gekommen und
hatten fünf Männer mitgenommen. Sie hatten sie wahllos aus der Gruppe geholt und waren mit ihnen verschwunden. Niemand wusste, was passiert war, niemand wagte es, die Schlepper nach ihnen zu fragen.
Tagsüber lagen sie auf ihren Matten und dösten. In der Nacht lagen sie noch immer auf ihren Matten und konnten nicht mehr schlafen. Der Gestank im Raum war nicht auszuhalten, doch nur selten durften sie die Fenster für ein paar Minuten öffnen.
Dann beschlossen zwei Männer, in die Stadt zu gehen. »Wir können Russisch, wir werden uns umhören.«
Die anderen hatten Angst. »Was ist, wenn sie euch schnappen? Ihr werdet uns alle verraten.«
Es kam zu einer kurzen Rauferei. Dennoch waren sie gegangen und nach einem halben Tag ohne Neuigkeiten zurück.
Bei jedem Geräusch auf der Treppe fuhren die Männer im Raum zusammen. Niemals wussten sie, wer an ihre Tür klopfen würde. Wenn die Nachbarn die Wohnungen verließen, hörten sie gespannt auf ihre Schritte. Und die Nachbarn standen draußen vor der Tür, horchten und fluchten laut auf dem Gang.
»Wir wissen, dass ihr da drinnen seid«, flüsterten die Kinder der Nachbarn. »Wir holen jetzt die Polizei!« Lachend liefen sie davon.
Die Männer blieben verschreckt zurück. Sie hatten Angst vor Kindern, die sich einen Spaß daraus machten, den Unbekannten hinter der Tür einen Schrecken einzujagen. Schwitzend saßen die Männer dort und lauschten auf jedes Geräusch aus dem Haus. »Was ist nur aus uns geworden?«
Sie beruhigten sich mit geflüsterten Gebeten.
Zweimal am Tag, wenn das Leben im Haus die Geräusche der Männer verschluckte, schalteten sie das Radio ein, das Hesmat mitgebracht hatte.
Sie verstanden den Schrecken nicht, den der Radiosprecher vermitteln wollte. Sie kannten den Krieg, sie kannten abgestürzte Flugzeuge, sie kannten den Tod von Freunden und Familie. Amerika war ihnen ein Begriff aus Erzählungen, aber es war, als sprächen sie vom Mond. Ein Land, das so weit weg von ihrem Leben war, dass sie nicht einmal Witze darüber machen konnten. Einige hatten Amerikaner an der Front getroffen, damals, als sie
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